Gedicht - Interpretation - Peter Rühmkorf - KEIN SCHÜLER MEHR

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Ersteinmal möchte ich dir sagen, dass ich es aller Ehren wert halte, dass du Unverständliches nicht einfach hinnimmst, sondern zu ergründen suchst. Das Gedicht hat seine Schwierigkeiten, die zwar nicht aus irgendwelcher hermetischen Metaphorik entstehen, aber aus einer Verkürzung und Doppelbödigkeit des Ausdrucks kommen können.

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Die Forderung, die das Gedicht an den Leser stellt, ist ja eher ungewöhnlich. Gemeinhin sagt man zu einem Menschen: Lass dich nicht erschüttern! Hier also das Gegenteil: Bleib erschütterbar! Gemeint ist, dass der Leser sich seine Sensibilität bewahren, sich nicht abstumpfen lassen möge. Adressiert ist das Gedicht an die Durchgedrehten, Umgehetzten, sprich: an jene, bei denen die Erschütterung so weit geht, dass sie (nahezu) den Verstand verlieren oder zumindest in starke Unruhe versetzt sind.

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Was für eine Erschütterung ist das? Zunächst die über die Kürze des Lebens allgemein: die Dinge erheben sich und geraten ins Wanken, der Mensch erhebt sich (aus der Wiege) und bald darauf wankt er (dem Grabe zu) oder, nüchterner ausgedrückt: das Lebenslicht wird angeschaltet und wieder abgeschaltet. Der nächste Vers Eh dein Kopf zum Totenkopf erkaltet ist doppeldeutig: zum einen rein zeitlich gesprochen (ehe du selbst stirbst, solange du noch lebst ...), zum anderen metaphorisch als Warnung (damit du nicht deine geistige Lebendigkeit verlierst, damit du nicht seelisch kalt und gleichgültig wirst ...) Am Ende jeder Strophe steht, wie der Refrain im Volks- oder Kirchenlied, gleichsam als Schlussfolgerung des in der Strophe Ausgeführten, die Formel mit der das Gedicht überschrieben ist: Bleib erschütterbar - doch widersteh!.

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In der zweiten Strophe wird gefordert, erschütterbar zu bleiben gegenüber Umweltzerstörung aus Profitgier. Das Motto dieser Profiteure und ihrer Unterstüzter Fortschritt marsch! Mit Gas und Gottvertrauen wandelt einen militärischen Befehl (Gleichschritt marsch!) ab, um auszudrücken, dass sie denselben blinden Gehorsam fordern wie er von Soldaten erwartet wird. Mit Gas und Gottvertrauen wandelt wohl die Formel Mit Mut und Gottvertrauen ab. Gas dürfte sich in diesem Zusammenhang auf die in der 2. Hälfte des 20. Jh. recht zahlreichen Giftgas- und Chemieunfälle, Gottvertrauen auf die Ahnungs- und Bedenkenlosigkeit, was die Folgen des vorangetriebenen Fortschritts betrifft, beziehen. In diesem Zusammenhang steht auch das eingemeinden: die Fortschrittsgläubigen werden hier als eine quasi religiöse Gemeinde betrachtet, in der man darauf wartet, dass die K0tze sich vergolde, d.h. dass aus dem eigenen (seelischen und körperlichen) Übelbefinden Profit entspringen möge.

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In der dritten Strophe wird das gesellschaftliche Miteinander betrachtet. Sie spricht von der Einschränkung der Denkfreiheit durch staatliche Gewaltandrohung (Knüppel zielen schon auf Hirn ...) oder aber von der Brachialität medialer Beeinflussung, die Intellekt (Hirn) und Empfinden (Nieren, im Sinne von "das geht mir an die Nieren") angreift und den Menschen Sorgen und Ängste einimpft.

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Die letzte Strophe wendet sich der persönlichen Ebene des Einzelnen zu. Eine gebräuchliche Redewendung "von der Skylla in die Charybdis geraten" (in der Bedeutung wie: "vom Regen in die Traufe") spielt auf die Irrfahrten des Odysseus an, dessen Schiff machtlos der Gewalt dieser beiden Meerungeheuer ausgesetzt war. Schwankt der Wechselkurs der Odyssee ist ein erneutes Wortspiel und bezeichnet zum einen das Schwanken des wechselnden Reisekurses der Odyssee (= Irrfahrt) des eigenen Lebens zwischen Einflüssen denen man nichts entgegenzusetzen hat. Zum anderen ist ein "schwankender Wechselkurs" ein Begriff aus der Finanzwelt und meint hier, dass der Wert des eigenen Lebens durch die äußeren Gewalten (Scy. u. Cha.) gleichermaßen niedrig angesetzt wird. Die Konklusion des Gedichts besteht darin, dass man sich Genossen (doppeldeutig: Leidensgenossen/Mitstreiter) suchen möge, um Dunkelheit (= Hoffnungslosigkeit) und Gefahr zu überwinden.

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Die z. T. derbe Wortwahl und die mitunter recht bemühten Reime (Ungeübte - Charybde) brechen das Pathos, das die Thematik mit sich bringt, und geben dem Gedicht einen witzig-ironischen Ausdruck.


McPhisto 
Beitragsersteller
 19.12.2010, 20:36

DAS ist mal eine gute Antwort,vielen Dank für die Mühe! Als Belohung gibt das den "Hilfreichste Antwort" Orden. ;-)

MfG McPhisto

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Man sollte Dichtern und auch anderen Künstlern eine kreative Freiheit zugestehen; man muss nicht alles deuten, erklären. Wie fielen Beschreibungen von Jandl - Gedichten aus?

Wenn Du keinen Zugang findestkannst Du es auf den Alkoholkonsum des Künstlers schieben; es kann auch vorklommen, dass man als Leser, Hörer, Betrachter in einer anderen Welt lebt und darum für sich ganz andere Interpretationen, als vom Schöpfer gewollt, findet.

Das ist ja nun auch nicht gerade ein mitreißendes Gedicht, da habe ich schon bessere selber gemacht! Es fordert immer wieder auf, unerschütterbar zu sein, und sonst ist alles sehr gestelzt. Meine persönliche und unmaßgebliche Meinung. Muß man sowas lesen und verstehen?? Ich meine nein.

Das ist doch eh leicht zu verstehen, der meint egal was passiert du sollst dich nicht untergriegen lassen!!!

naja hoffe dass ich dir helfen konnte, lg Dogge