Einführung der Politie (Aristoteles) in Deutschland?

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Theorie bei Aristoteles

Politie (griechisch: πολιτεία [politeia]) hat bei Aristoteles außer der allgemeinen Bedeutung „Verfassung“ noch zwei unterschiedliche Bedeutungen:

1) gute Form der Demokratie (Politie ist eine gute Form von Demokratie im Gegensatz zur schlechten Form, der äußersten/extremen Demokratie)

2) Verfassung mit Mischung (aus Elementen/Bestandteilen verschiedener einzelner Verfassungen/Staatsformen – darunter der Demokratie – gemischt)

Die Politie sucht den Ausgleich zwischen einer reichen Führungsschicht und einer armen Menge, fördert zu diesem Zweck die Mittleren (eine Bezeichnung, die eine sozialen Gesichtspunkt hat, bei dem die Mittleren eine Mittelschicht sind, und eine ethischen Gesichtspunkt, bei die Mittleren die auf die richtige Mitte ausgerichteten Leute sind) und ist eine auf Freundschaft beruhende Gemeinschaft freier Menschen mit der Mitte als maßgebender Richtlinie (4, 11- 13)

Michael Becker, Demokratie und politische Legitimität. In: Michael Becker/Johannes Schmidt/Reinhard Zintl. Politische Philosophie. 2., durchgesehene Auflage. Paderborn ; München ; Wien ; Zürich, 2009 (UTB ; 2816 Grundkurs Politikwissenschaft), S. 259 – 272

S. 269: „Nach den Ausführungen in Buch IV, 8 – 9 ist die Politie die für die meisten Staaten und Menschen, also die durchschnittlich beste Verfassung. Vom Namen her ist die Politie zwar mit dem ganz unspezifischen Begriff einer „Verfassung überhaupt“ identifiziert, aber in dem weiter gebrauchten Sinn ist sie zu verstehen als die „gute“ Herrschaft der Vielen.

Was zunächst wieder den eher technisch-institutionellen Aspekt angeht, sind in einer „guten“ Politie Elemente der damals verbreiteten („schlechten“) Herrschaftsformen, der Demokratie und der Oligarchie gemischt – von daher rührt die Kennzeichnung als Mischverfassung. Oligarchische und demokratische Elemente lassen sich allerdings unterschiedlich zusammensetzten; z. B. so, daß Bestimmungen aus beiden Verfassungsformen übernommen werden und nebeneinander bestehen blieben oder so, daß die Mitte zwischen beiden unterschiedlichen Anforderungen für die Politie als angemessen betrachtet wird (daß etwa für die Beteiligung an der Volksversammlung ein nicht zu hoch angesetztes Mindestvermögen Voraussetzung, so daß sie vielen, nicht allen zugänglich ist), oder aber so, daß in einer Regelung Elemente aus beiden kombiniert werden (daß Beamte, wie in der Oligarchie, gewählt und nicht gelost werden, daß dabei aber Besitz keine Rolle spielt).“

S. 270: „Darüber hinaus hat sie aber auch noch einen nicht extremen Volkstypus zur Voraussetzung, in dem die „Mittleren“ die größte Zahl stellen. Und dies bedeutet wiederum zweierlei: erstens bedarf es derjenigen Bürger, die weder übermäßig reich noch übermäßig arm sind; zweitens aber sind auch diejenigen Bürger vonnöten, die in ethischer Hinsicht in der Lage sind, die Mitte zu wählen. Die Politie ruht idealerweise in dieser Mittel-Schicht und ist deshalb sowohl vor demokratischen Revolutionen als auch vor oligarchischen Unruhen geschützt.“

S. 272: „Hinzukommt, daß sich dieses Vertrauen der Bürger aufgrund ihres ähnlichen, nämlich „mittleren“ Charakters“ und ihrer vergleichbaren materiellen Situation leichter einstellen kann. In der Politie nimmt die Beziehung der Bürger untereinander folglich den Charakter einer Kameradschaft unter Brüdern oder Geschwistern an.“

„Dieses freundschaftliche Verhältnis, das auf dem jeweiligen Wohlwollen beruht, ist ein wesentlicher Faktor der Stabilität der Politie, weil eine weit verbreitete vertrauensvolle Einstellung wiederum zuträglich für das Funktionieren der politischen Institutionen ist.“

Einführung der Politie in Deutschland

Eine Übertragung ist nicht einfach, weil die politischen, gesellschaftichen, wirtschaftlichen kulturellen und technischen Verhältnisse stark verändert gegenüber einer antiken Polis, an die Aristoteles dachte, sind.

Aristoteles dachte bei der Politie nicht an einen großen Flächenstaat mit sehr zahlreicher Bevölkerung, sondern an eine Polis, eine politische Gemeinschaft als Bürgerstaat mit überschaubarer Größe. Er hatte dafür auch die Vorstellung wirtschaftlicher Autarkie.

Dies streng zu übernehmen würde eine Aufteilung Deutschlands in eine Vielzahl von Kleinstaaten bedeuten, die nicht mit einem Weltmarkt und großen Unternehmen verbunden sind. In Bezug auf die Leistungsfähigkeit von Staaten in der Erfüllung zu erwartender Aufgaben erscheint dies wenig sinnvoll.

Denkbar ist ein Versuch, die Stellung der Mittleren zu stärken, damit sie deutlich überwiegen. Sie sollten also zahlreicher als die anderen sein. Nötig wäre eine wirtschaftliche Förderung der Mittelschicht und eine Verschiebung der Steuerlast ein Stück von der Mittelschicht hin zu den sehr Reichen. Maßnahmen gegen Armut könnten helfen. Ziel wäre, möglichst viele Arme zu etwas Wohlstand zu bringen. Sie würden dann auch zu den Mitteleren gehören.

Nötig wären Bildungsmaßnahmen, damit die Mehrzahl auf einem guten Stand ist und eine auf ethische Tugenden zielende Erziehung. Medienkompetenz und Übung der Urteilsfähigkeit wären wichtig.

Bei der Politie in der Bedeutung einer Verfassung mit Mischung von Verfassungsarten käme eventuell eine leichte Einschränkung des Wahlrechts (kein Wahlrecht für äußerst Arme oder äußerst Ungebildete).

Aristoteles denkt bei der Politie an eine Besetzung zumindest der meisten Regierungsämter durch Wahl, nicht durch Los (in der athenischen Demokratie wurden die meisten Ämter für ein Jahr durch ein Losverfahren vegeben). Gegenüber einer parlamentarischen Demokatrie mit vor allem indirekter Demokratie wäre darin kein großer grunsätzlciher Unterschied.

Bei der Politie in der Bedeutung einer guten Form der Demokratie dürften alle Bürger wähen und abstimmen und Richter in Laiengerichten sein, aber in Regierungsämter düften keine Menschen, die weder wohlhabend sind noch sich durch besondere Vortrefflichkeit/Tugend/Tüchtigkeit auszeichnen.

Eine Beurteilung würde auch davon abhängen, die eine Politie genau verwirklicht wird.

Allgemeinwohl/gemeinsamer Nutzen und Regieren nach Gesetzen (Rechtsstaatlichkeit) sind gute Grundsätze.

Ein Ausschließen der Frauen von politischen Rechten und das institutionelle Bestehen von Sklaverei sind voruteilsbedingt und ungerechte Unterdrückung.

Vortrefflichkeit/Tugend/Tüchtigkeit der Bürger ist wünschenswert.

Ein Problem liegt in den verschiedenen Gesichtspunkten, nach denen die Mittleren bestimmt werden. Eine Zugehörigkeit zu einer Mittelschicht und eine Einstellung, die auf die richtige Mitte ausgerichtet sind, fallen ja nicht unbedingt zusammen. Es sollte nicht eine einzelne gesellschaftliche Gruppe mit eigensüchtigen Interessen die Vorherrschaft haben und andere benachteiligen. Wenn Besitz und Einkommen Kriterium sind, besteht die Gefahr einer Diskriminierung von Arbeitslosen. Eine Frage wäre, ob Bürgergeld an sie gezahlt würde, mit dem sie zu den Mitteleren gehören. Der ethische Gesichtspunkt (Ausrichtung auf die richtige Mitte) nennt eher eine günstige Vorausetzung, ist aber praktisch schwierig durchführbar. Nach welchen Maßstäben und formalen Bestimmungen würde ausgewählt und wer/welche Institution dürfte darüber entscheiden? Wie wird so etwas verwirklicht, ohne zu viel Streit hervorzurufen, der dem Ziel einer Stabilität schaden würde?