Nicht aus der Biebel, aber absolut glaubwürdig
2. Die Kreuzigung187:2.1 (2006.5) Die Soldaten banden zuerst des Meisters Arme mit Stricken am Querbalken fest und nagelten dann seine Hände an das Holz. Dann hoben sie den Querbalken am Pfosten entlang hoch, nagelten ihn sicher am senkrechten Kreuzesbalken fest und banden und nagelten schließlich Jesu Füße an das Holz, wozu sie einen einzigen Nagel verwendeten, der beide Füße durchbohrte. In den senkrechten Balken war auf der richtigen Höhe eine große Sprosse eingelassen, die als eine Art Sattel diente, um das Gewicht des Körpers zu tragen. Das Kreuz war nicht hoch, des Meisters Füße befanden sich nur etwa einen Meter über dem Boden. Er konnte deshalb allen Hohn hören, der über ihn gesprochen wurde, und sehr wohl den Ausdruck auf den Gesichtern all derer sehen, die ihn so gedankenlos verspotteten. Und ebenso konnten die Anwesenden leicht alles hören, was Jesus während dieser Stunden sich dahinschleppender Qual und langsamen Sterbens sprach.
187:2.2 (2007.1) Es war Sitte, die für das Kreuz Bestimmten völlig zu entkleiden, aber da die Juden gegen die öffentliche Zurschaustellung der nackten menschlichen Gestalt heftigen Einspruch erhoben, versorgten die Römer alle in Jerusalem Gekreuzigten immer mit einem geziemenden Lendenschurz. Demgemäß wurde Jesus, nachdem man ihn ausgezogen hatte, in dieser Weise bekleidet, bevor er an das Kreuz geschlagen wurde.
187:2.3 (2007.2) Man wandte die Kreuzigung an, um für eine grausame und sich lang hinziehende Bestrafung zu sorgen, bei der das Opfer manchmal mehrere Tage lang am Leben blieb. Es gab in Jerusalem eine starke gefühlsmäßige Opposition gegen die Kreuzigung. Es existierte eine Gesellschaft jüdischer Frauen, die immer eine Vertreterin zu den Kreuzigungen sandte, um den Opfern einen mit einem Betäubungsmittel versetzten Wein zu reichen und dadurch ihr Leiden zu mildern. Aber als Jesus diesen betäubenden Wein schmeckte, weigerte er sich, so durstig er auch war, davon zu trinken. Der Meister war entschlossen, sein menschliches Bewusstsein bis zuletzt zu bewahren. Er wollte dem Tod auch in dieser grausamen und unmenschlichen Form begegnen und ihn in freiwilliger Unterwerfung unter die vollständige menschliche Erfahrung überwinden.
187:2.4 (2007.3) Bevor Jesus an sein Kreuz geschlagen wurde, waren die beiden Räuber bereits auf die ihrigen gebracht worden, von denen herab sie ihre Henker ohne Unterlass beschimpften und bespuckten. Jesu einzige Worte, als sie ihn auf den Querbalken nagelten, waren: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Er hätte nicht so voller Erbarmen und Liebe für seine Henker bitten können, wenn solche Gedanken liebender Hingabe nicht die Haupttriebfeder seines ganzen Lebens in selbstlosem Dienst gewesen wären. Die Ideen, Beweggründe und Sehnsüchte eines ganzen Lebens kommen in einer Krise offen an den Tag.
187:2.5 (2007.4) Nachdem sie den Meister auf das Kreuz gehoben hatten, nagelte der Hauptmann die Inschrift über seinem Kopf fest, und sie lautete in drei Sprachen: „Jesus von Nazareth — der König der Juden.“ Die Juden gerieten in Wut über das, was in ihren Augen eine Beleidigung war. Aber Pilatus war über ihre respektlose Art verärgert; er fühlte, dass er sich hatte einschüchtern und demütigen lassen, und griff jetzt zu dieser Methode kleinlicher Heimzahlung. Er hätte auch schreiben können: „Jesus, ein Rebell.“ Aber er wusste sehr wohl, wie sehr die Juden von Jerusalem den bloßen Namen Nazareth verabscheuten, und er war entschlossen, sie auf diese Weise zu demütigen. Er wusste, dass sie zutiefst verletzt sein würden, wenn sie sehen würden, dass man diesen hingerichteten Galiläer als „König der Juden“ bezeichnete.
187:2.6 (2007.5) Als sie von dem Versuch des Pilatus, sie durch Anbringen dieser Inschrift an Jesu Kreuz lächerlich zu machen, erfuhren, eilten viele der jüdischen Führer nach Golgatha hinaus, aber angesichts der römischen Soldaten, die Wache hielten, wagten sie es nicht, die Tafel zu entfernen. In ihrer Ohnmacht, sie zu beseitigen, mischten sich die Führer unter die Menge und taten ihr Möglichstes, um die Leute aus Furcht, jemand könnte die Inschrift ernst nehmen, zu Hohn und Spott zu ermuntern.
187:2.7 (2007.6) Gleich nachdem Jesus in seine Lage auf dem Kreuz gebracht worden war und gerade als der Hauptmann die Inschrift über des Meisters Haupt annagelte, traf der Apostel Johannes mit Jesu Mutter Maria, Ruth und Jude am Ort des Geschehens ein. Johannes war von den elf Aposteln der einzige Zeuge der Kreuzigung, und auch er war nicht während der ganzen Zeit anwesend, denn bald nachdem er Jesu Mutter an den Ort des Geschehens gebracht hatte, lief er nach Jerusalem zurück, um seine eigene Mutter und ihre Freunde zu holen.
187:2.8 (2007.7) Als Jesus seine Mutter mit Johannes, seinem Bruder und seiner Schwester erblickte, lächelte er, sagte aber nichts. Unterdessen hatten die vier der Kreuzigung des Meisters zugeteilten Soldaten, wie es Brauch war, seine Kleider unter sich aufgeteilt. Einer nahm die Sandalen, einer den Turban, einer den Gürtel und der vierte den Mantel. Endlich gab es nur noch die Tunika in vier Teile zu zerschneiden, ein nahtloses Gewand, das beinahe bis zu den Knien hinabreichte. Aber als die Soldaten sahen, was für ein ungewöhnliches Kleidungsstück das war, beschlossen sie, das Los darum zu werfen. Jesus schaute auf sie herab, während sie seine Kleider teilten und die kopflose Menge ihn verspottete.
187:2.9 (2008.1) Es war gut, dass die römischen Soldaten sich des Meisters Kleider aneigneten. Denn wären seine Anhänger in den Besitz dieser Kleidungsstücke gelangt, wären sie versucht gewesen, sich abergläubischer Reliquienverehrung hinzugeben. Der Meister wünschte, dass seine Anhänger nichts Materielles besäßen, das sie mit seinem Leben auf Erden hätten in Verbindung bringen können. Er wollte der Menschheit nur die Erinnerung an ein menschliches Leben hinterlassen, das dem hohen geistigen Ideal der Hingabe an die Ausführung des väterlichen Willens gewidmet war.
3. Die Zeugen der Kreuzigung187:3.1 (2008.2) An diesem Freitagmorgen gegen halb zehn wurde Jesus an das Kreuz gehängt. Bis gegen elf Uhr hatten sich an die tausend Leute eingefunden, um dem Schauspiel der Kreuzigung des Menschensohnes beizuwohnen. In diesen entsetzlichen Stunden verharrten die unsichtbaren Heerscharen eines ganzen Universums in Schweigen und starrten auf das außerordentliche Geschehen, wie der Schöpfer den Tod eines Geschöpfes starb, sogar den schändlichsten Tod eines verurteilten Verbrechers.
187:3.2 (2008.3) Zu verschiedenen Zeiten standen während der Kreuzigung in der Nähe des Kreuzes: Maria, Ruth, Jude, Johannes, Salome (Mutter des Johannes) und eine Gruppe tiefgläubiger Frauen, unter ihnen Maria, Frau des Klopas und Schwester von Jesu Mutter, Maria Magdalena und Rebekka, die vormals in Sepphoris gewohnt hatte. Diese und andere Freunde von Jesus verhielten sich still, während sie Zeugen seiner großen Geduld und Seelenstärke waren und seines intensiven Leidens ansichtig wurden.
187:3.3 (2008.4) Viele Vorübergehende schüttelten den Kopf und beschimpften ihn mit den Worten: „Du, der du den Tempel in drei Tagen zerstören und wieder aufbauen wolltest, rette dich nun selbst! Wenn du der Sohn Gottes bist, warum kommst du nicht von deinem Kreuz herunter?“ In derselben Weise machten sich einige Führer der Juden über ihn lustig, indem sie sagten: „Er rettete andere, aber sich selber kann er nicht retten.“ Andere sagten: „Wenn du der König der Juden bist, dann komm vom Kreuz herab, und wir werden an dich glauben.“ Und später verlachten sie ihn noch mehr und sagten: „Er hat auf Gott vertraut, dass er ihn befreien werde. Er behauptete sogar, der Sohn Gottes zu sein — schaut ihn euch jetzt an — gekreuzigt zwischen zwei Dieben.“ Sogar die beiden Diebe zogen über ihn her und überhäuften ihn mit Vorwürfen.
187:3.4 (2008.5) Da Jesus auf all ihren Hohn nichts erwiderte und da an diesem besonderen Tag der Vorbereitung die Mittagszeit herannahte, hatte sich bis halb zwölf fast die ganze witzelnde und spöttelnde Menge verlaufen; weniger als fünfzig Menschen blieben am Ort des Geschehens zurück. Die Soldaten machten sich jetzt daran, ihr Mittagsbrot zu verzehren und ihren billigen sauren Wein zu trinken und richteten sich auf die lange Totenwache ein. Als sie ihrem Wein zusprachen, brachten sie auf Jesus höhnisch den Trinkspruch aus: „Heil und viel Glück dem König der Juden!“ Und sie waren erstaunt, mit welcher Toleranz der Meister ihr Gelächter und Gespött hinnahm.
187:3.5 (2008.6) Jesus sah sie essen und trinken, und er schaute auf sie herab und sagte: „Ich habe Durst.“ Als der Wachthauptmann Jesus „Ich habe Durst“ sagen hörte, nahm er etwas Wein aus seiner Flasche, pflanzte den damit gesättigten schwammigen Stöpsel auf das Ende eines Speers und hob ihn zu Jesus hinauf, so dass er seine ausgedörrten Lippen damit befeuchten konnte.
187:3.6 (2008.7) Jesus hatte sich vorgenommen zu leben, ohne auf seine übernatürlichen Kräfte zurückzugreifen, und desgleichen wollte er wie ein gewöhnlicher Mensch am Kreuz sterben. Er hatte wie ein Mensch gelebt und er wollte wie ein Mensch sterben — in Ausführung des Willens des Vaters.
5. Letzte Stunde am Kreuz187:5.1 (2010.2) Obwohl es zu dieser Jahreszeit für eine solche Erscheinung früh war, verdunkelte sich der Himmel kurz nach zwölf, weil die Luft voll feinen Sandes war. Die Jerusalemer wussten, dass dies das Nahen eines heißen Sandsturms aus der arabischen Wüste bedeutete. Noch vor ein Uhr war der Himmel so dunkel geworden, dass die Sonne verschwand. Da eilte der Rest der Menge zur Stadt zurück. Als der Meister kurz danach sein Leben aushauchte, waren weniger als dreißig Personen anwesend: lediglich die dreizehn römischen Soldaten und eine Gruppe von etwa fünfzehn Gläubigen. Es waren alles Frauen mit Ausnahme von Jude, Jesu Bruder, und Johannes Zebedäus, die erst unmittelbar vor dem Verscheiden des Meisters an den Ort des Geschehens zurückkehrten.
187:5.2 (2010.3) Inmitten der zunehmenden Dunkelheit des heftigen Sandsturms begann kurz nach ein Uhr Jesu menschliches Bewusstsein zu schwinden. Er hatte seine letzten Worte des Erbarmens, der Vergebung und der Ermahnung gesprochen. Er hatte seinen letzten Wunsch, der der Betreuung seiner Mutter galt, ausgedrückt. In dieser Stunde des herannahenden Todes nahm Jesu menschlicher Verstand Zuflucht zu der Wiederholung vieler Stellen der hebräischen Schriften, insbesondere der Psalmen. Der letzte bewusste Gedanke des menschlichen Jesus galt der Wiederholung eines Abschnitts aus dem Buch der Psalmen, den man jetzt als zwanzigsten, einundzwanzigsten und zweiundzwanzigsten Psalm kennt. Zwar bewegten sich seine Lippen oft, doch war er zu schwach, um die Worte auszusprechen, während ihm die Stellen, die er so gut auswendig kannte, durch den Sinn gingen. Nur wenige Male fingen die Dabeistehenden einige Worte auf wie: „Ich weiß, dass der Herr seinen Gesalbten retten wird“, „Deine Hand wird all meine Feinde finden“ und „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Jesus hegte auch nicht einen Augenblick lang den leisesten Zweifel daran, in Übereinstimmung mit dem Willen des Vaters gelebt zu haben, und nie zweifelte er daran, dass er jetzt sein irdisches Leben in Übereinstimmung mit seines Vaters Willen ablegte. Er fühlte nicht, dass sein Vater ihn verlassen habe, er sagte nur in seinem schwindenden Bewusstsein viele Schriftstellen her, worunter sich dieser zweiundzwanzigste Psalm befand, der mit „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ beginnt. Und der Zufall wollte es, dass diese Stelle eine von dreien war, die genügend laut gesprochen wurden, um von den Umstehenden vernommen zu werden.
187:5.3 (2010.4) Etwa um halb zwei richtete der sterbliche Jesus die letzte Bitte an seine Mitmenschen, als er zum zweiten Mal sagte: „Ich habe Durst.“ Und derselbe Hauptmann der Wache befeuchtete seine Lippen mit demselben Schwamm, der mit saurem Wein, den man damals gewöhnlich Essig nannte, getränkt war.
187:5.4 (2010.5) Der Sandsturm wurde heftiger und der Himmel verfinsterte sich immer mehr. Dennoch hielten die Soldaten und die kleine Gruppe von Gläubigen aus. Die Soldaten kauerten dicht beieinander neben dem Kreuz, um sich gegen den schneidenden Sand zu schützen. Die Mutter des Johannes und andere schauten aus einer gewissen Entfernung zu, wo ihnen ein überhängender Felsen einigermaßen Schutz bot. Als der Meister endlich seinen letzten Atemzug tat, befanden sich am Fuße seines Kreuzes Johannes Zebedäus, sein Bruder Jude, seine Schwester Ruth, Maria Magdalena und Rebekka, die früher in Sepphoris gewohnt hatte.
187:5.5 (2011.1) Es war gerade etwas vor drei Uhr, als Jesus mit lauter Stimme ausrief: „Es ist vollbracht! Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.“ Und nachdem er so gesprochen hatte, neigte er sein Haupt und gab den Lebenskampf auf. Als der römische Zenturio sah, wie Jesus starb, schlug er sich an die Brust und sagte: „Das war in der Tat ein rechtschaffener Mann; er muss wahrhaftig ein Sohn Gottes gewesen sein.“ Und von jener Stunde an begann er, an Jesus zu glauben.
187:5.6 (2011.2) Jesus starb königlich — so wie er gelebt hatte. Er bekannte sich offen dazu, ein König zu sein, und blieb den ganzen tragischen Tag über Herr der Lage. Er ging willentlich in seinen schändlichen Tod, nachdem er für die Sicherheit seiner auserwählten Apostel gesorgt hatte. Weise hielt er Petrus zurück, als dessen Heftigkeit Schwierigkeiten zu schaffen drohte, und er sorgte dafür, dass Johannes ganz bis zum Ende seiner sterblichen Existenz in seiner Nähe blieb. Er bekannte sich vor dem mörderischen Sanhedrin zu seiner wahren Natur und erinnerte Pilatus an die Quelle seiner souveränen Autorität als ein Sohn Gottes. Seinen eigenen Kreuzesbalken tragend, brach er nach Golgatha auf und beendete seine liebende Selbsthingabe, indem er dem Paradies-Vater seinen Geist, den er als Sterblicher erworben hatte, übergab. Nach einem solchen Leben — und angesichts eines solchen Todes — konnte der Meister wahrlich sagen: „Es ist vollbracht.“
187:5.7 (2011.3) Weil es der Tag der Vorbereitung sowohl auf Passah als auch auf den Sabbat war, wollten die Juden nicht, dass die Leiber auf Golgatha zur Schau gestellt würden. Deshalb gingen sie zu Pilatus und verlangten, dass man den drei Männern die Beine breche und sie töte, um sie von ihren Kreuzen herunternehmen und noch vor Sonnenuntergang in die Totengrube für Verbrecher werfen zu können. Als Pilatus dieses Begehren hörte, schickte er unverzüglich drei Soldaten aus, die Jesus und den zwei Räubern die Beine zu brechen und sie zu töten hatten.