Antwort Teil 2:
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Ich gehe davon aus, dass die Ursprünge des Veda in Stammeskulturen, bzw. in deren Sesshaftwerdung zu finden sind. So spricht das erste Lied des ersten Liederkreises davon, dass Agni, der Gott des Feuers, zum Mittler zwischen Mensch und den Göttern wurde, als das Feuer in allen Häusern heimisch wurde. Ich lese das so: Agni als Residuum aller Feuergottheiten verschiedener, durch Sesshaftwerdung versippter Stämme, konnte in seiner heutigen Form erst entstehen, nachdem die Menschen sesshaft wurden. Aber für diesen Gott muss es eine Wurzel gegeben haben, und die ist im Gebrauch des Feuers zu suchen. Das Feuer wurde sicherlich verwendet, bevor der Mensch dazu in der Lage war, es selbst zu entfachen – und als er es vollbrachte, war es eine gewaltige Tat, deren Großartigkeit in der Legende des Prometeus treffend beschrieben wird – er brachte den Menschen das Feuer und muss für diesen Diebstahl ewig leiden. Die Beherrschung dieses mächtigen Elements, dass der Mensch vorher nur durch Naturgewalten fürchten gelernt hatte, musste ein großartiges Ereignis gewesen sein. Er begann, Fleisch zu braten und in das Feuer zu starren jetzt, da es ungefährlich geworden war. Weiterhin erfand der Mensch die Sprache und mit der Sprache das „Ich“ als innersprachlichen Verweis – diese selbstreflektive Distanz, geboren aus einem unbewussten „Einssein“ mit der Natur, die ihn umgab, kann treffend durch das Ritual und das Feuer wieder aufgehoben werden – der Mensch, der sich von seinem Umfeld auf einmal in dem Maße entfernte, indem er lernte, Sprache zu gebrauchen, glich diese Entfernung dadurch aus, dass er sich der Welt auf eine andere Art und Weise annäherte – nämlich um sie bewusst zu erkunden. Wenn wir also in den Veda blicken und von Agni lesen, so schauen wir nicht nur durch Jahrhunderte oder Jahrtausende – wir schauen durch zehntausende von Jahren, wir sehen das Feuer vom ersten Augenblick an, an dem der Mensch seiner bewusst angesichtig wurde. Wir stehen auf einmal an der Seite übel riechender Gestalten, in Felle und Leder gekleidet, mit Steinketten und geschnitztem Schmuck behängt, vielleicht die Gesichter bemalt, die gerade in Chauvet Felswände für ein Ritual vorbereiten. Wir sehen zurück dahin, wo wir herkommen und wer wir sind – nicht nur in die Anfänge von Religion, sondern in die Anfänge des Bewusstseins an sich.
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Aus diesem Grunde glaubten die Inder auch, dass die Welt untergeht, wenn der Veda nicht mehr befolgt wird – gewissermaßen war das ja auch so – durch das Ritual wurde Sprache und Wissen tradiert – würde das Ritual vergessen, so sank die Sippe wieder in die Monade des Unbewusstseins zurück. Der Veda als magisches Ritual zur Beeinflussung der Welt hat wahrscheinlich mittlerweile ausgedient – aber als Brücke zu unserem Ursprung und zur erneuten aber diesmal bewussten Einheit mit der Welt, die uns umgibt ist er so aktuell wie eh und je. Insofern haben die Brahmanen Recht, wenn sie sagen, der Veda enthielte die Geheimnisse der Welt – was man in ihm finden kann, findet man nirgendwo anders.
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In Indien entwickelte sich aus den Wurzeln des Veda etwas, was mit diesem auf den ersten Blick gar nichts mehr zu tun hatte: Der Buddhismus. Die Lehre Buddhas kann als fundamentale Revolution verstanden werden oder als ursprüngliche Wiederherstellung des Status quo, je nachdem. Als fundamentale Revolution erscheint er in seiner Terminologie, die jeden Schöpfergott negiert und den Menschen selbst als einzige Quelle seiner Erlösung durch das Beenden des Daseinskreislaufes darstellt. In seinen Belehrungen tauchen die Götter zwar noch auf, aber auch sie haben eine Lebenszeit und sterben irgendwann – die Götter werden zu einer Daseinsform unter vielen, die irgendwann sterben und dann als Menschen oder was auch immer erneut geboren werden und somit von Leiden nicht frei sind. Aber auch nach der indischen Vorstellung ist Brahma nicht die Quelle des Universums, sondern lediglich der Gestalter – der Ursprung ist Parabrahman – das höchste Brahman, von dem im Veda zweierlei ausgesagt wird: Erstens, dass unser Vermögen an es nicht reicht und zweitens, dass es sich in seiner ursprünglichen Gestalt opferte, um die Welt erschaffen zu lassen. Es ist also nicht in der Welt, sondern die Welt ist in ihm. In der buddhistischen Lehre des Mahayana ist die Welt eine Illusion vor dem Hintergrund der absoluten Konzeptlosigkeit, die in einer Erfahrung mündet, die Shunyata, Leerheit genannt wird. Vergleicht man die Vorstellungen auf diese Weise, so hat Buddha nicht ein Wort neues gesagt, sondern Altes neu formuliert, um wieder einen Weg zu öffnen, der durch Altes verbaut war – denn der Mensch hatte aus sich heraus keine Möglichkeit, aus diesem Kreislauf auszubrechen – er musste warten, bis er Brahmane wurde, denn nur Brahmanen konnten nach ihrem Tod mit Parabrahman eins werden. Und wie die Baghavad Gita lehrt, ist dieses Einswerden bereits alle Belohnung, die erwartet werden kann – darüber hinaus gibt es nichts. Buddha öffnet diesen Weg wieder für alle und jedermann, indem er die Erlösung aus eigener Kraft proklamiert und sich konsequent weigert, etwas zu benennen, dass die Welt geschaffen haben soll. Es ist logisch gedacht: Denn wenn dieses Absolute unergründlich und nicht in der Welt ist und als einziges nicht leidet, so muss es konzeptlos sein, denn alles in der Welt hat ein Konzept. Wenn es aber konzeptlos ist, so kann kein Ritual helfen, es zu erreichen, sondern lediglich das Ablegen aller Konzepte. Wenn aber alle Konzepte abgelegt werden müssen, um es zu erreichen, so benötigt man eine neue Terminologie, die sich bekannter Methoden bedient, um dieses zu erreichen. Genau das lehrte er dann auch 40 Jahre lang.
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Wir haben uns die ersten Götter, die Bildnisse und Namen haben also als Residuuen von sich miteinander vermengenden Stammesgöttern zu verstehen, darauf weisen auch die Unterschiede in den Liederkreisen hin, die jeweils verschiedene Aspekte der Gottheiten betonen. Die aus diesen Residuuen entstandenen Gottheiten wurden durch spätere Revisionen wie der Baghavad Gita folgerichtig als abhängige erkannt – das, wovon sie abhingen, nannte man das Ungreifbare, das außerhalb dieser Welt liegt. Dieses Ungreifbare, das in sich alles birgt, was ist, kann als Vorstufe zu dem aufgefasst werden, was einmal der mosaische Gott werden sollte. Dieser Gott wird erst erkannt, nachdem durch die Synthese der einzelnen Ansichten ein Abhängigkeitsverhältnis der Gottheiten zu den kulturellen Besonderheiten wie dem Ritual oder der Sprache erkannt wurde – notwendig wurde die Ungewissheit des Veda über den Ursprung der Welt (10.129.7: Woraus sich diese Welt entwickelt hat, ob er sie gemacht hat oder nicht – der der Aufseher dieser Welt im höchsten Himmel ist, der allein weiß es, es sei denn, dass auch er es nicht weiß.) als das wahre Unendliche erkannt, da die Götter innerhalb dieses Universums an die Zeit dieses Universums gebunden waren.
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Gehen wir nun rückwärts zu jenen Stammesgottheiten und bleiben wir beim Feuer: Der Mensch muss der Sprache mächtig sein, um die Erkenntnis eines Gottes erfassen zu können, ansonsten verbliebe sie als nicht versprachlichter Eindruck auf einer vorbewussten Ebene. Der Mensch muss also bereits über Begriffe verfügen, um eine Erkenntnis von Gott zu haben. Die Begriffe selbst sind hierbei arbiträr – hierbei scheint mir Kant den entscheidenden Gedanken gedacht zu haben:
„Das Schöne kommt darin mit dem Erhabenen überein, dass beides für sich selbst gefällt. Ferner darin, daß beides kein Sinnes- noch ein logisch-bestimmendes, sondern ein Reflexionsurteil voraussetzt: folglich das Wohlgefallen nicht an einer Empfindung wie die des Angenehmen, noch an einem bestimmten Begriffe wie das Wohlgefallen am Guten hängt, gleichwohl aber doch auf Begriffe, obzwar unbestimmt welche, bezogen wird;“
Das Erhabene, so Kant, wird also zum Erhabenen erst durch Reflexion auf die eigentliche Erfahrung, das heißt, es wird im Nachhinein als Erhabenes erkannt im Bezug auf Begriffe, mit denen man es beschreibt, wobei nicht durch Begriffe definiert wird, worin das Erhabene besteht, sondern der Begriff erst hinterher mit einem Eindruck identifiziert wird und somit arbiträr ist: Jeder erlebt etwas anderes als erhaben. Das Wohlgefallen, das sich aus dem Erlebnis des Erhabenen entwickelt, ist demnach an die Fähigkeit geknüpft, dass, was wir erlebten, darzustellen. Das Erhabene ist somit etwas, was kohärent ist dahingehend, dass ein zunächst atavistischer Eindruck versprachlicht wird oder besser: das wir die Fähigkeit dazu haben, uns einen Begriff dazu zu denken, woraus sich ergibt, dass, ohne das wir das emotionale Moment schon tiefer untersucht hätten, das Erhabene uns als Ganzes berührt und unsere Potenz dadurch ausdrückt, dass wir ein atavistisches Erleben in kultivierte Formen bringen können: Begriffe.