Lieber Kirschstein,
das Zitat steht in Bonhoeffers Brief vom 17. Juli 1944 an seinen Freund Eberhard Bethge. Ich setze ein wenig vorher ein und zitiere:
"Und wir können nicht redlich sein, ohne zu erkennen, daß wir in der Welt leben müssen - "etsi deus non daretur" [Anm.: dt. "als ob es Gott nicht gäbe"]. Und eben dies erkennen wir - vor Gott! Gott selbst zwingt uns zu dieser Erkenntnis. So führt uns unser Mündigwerden zu einer wahrhaftigeren Erkenntnis unsrer Lage vor Gott. Gott gibt uns zu wissen, daß wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden. Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verläßt (Markus 15,34)! Der Gott, der uns in der Welt leben läßt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott läßt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns. Es ist Matthäus 8,17 ganz deutlich, daß Christus nicht hilft kraft seiner Allmacht, sondern kraft seiner Schachheit, seines Leidens! Hier liegt der entscheidende Unterschied zu allen Religionen. Die Religiosität des Menschen weist ihn in seiner Not an die Macht Gottes in der Welt, Gott ist der deus ex machina [Anm.: dt. "Gott aus der Maschine": im antiken griechischen Theater kam es häufig vor, dass durch ein unvorhersehbares Eingreifen einer göttlichen Macht "aus der Maschine" zu einer Wendung des Schicksals des Protagonisten führte]. Die Bibel weist den Menschen an die Ohnmacht und das Leiden Gottes; nur der leidende Gott kann helfen. Insofern kann man sagen, daß die beschriebene Entwicklung zur Mündigkeit der Welt, durch die mit einer falschen Gottesvorstellung aufgeräumt wird, den Blick frei macht für den Gott der Bibel, der durch seine Ohnmacht in der Welt Macht und Raum gewinnt."
Bonhoeffer geht es hier um ein grundsätzliches Verständnis des christlichen Gottesbegriffes im Sinne der lutherischen Kreuzestheologie. Man kann nicht christlich von Gott reden, ohne dabei von Jesus Christus auszugehen, der am Kreuz leidet und stirbt. Der christliche Gott steht einem Allmachts-Wunschdenken von einem "Supermann-Gott" durch das Kreuzesgeschehen entgegen. Es gibt keinen Deus ex machina.
Viele Christen behaupten, Gott wäre so einer und hätte ihnen aus irgendwelchen Notlagen durch viel Beten geholfen. Ein absolut magisches Verständnis, wie es auch in der Bibel vorkommt. Das kann zwar vorkommen, hat dann aber nichts mehr mit dem am Kreuz offenbarten Gott zu tun. Der am Kreuz offenbarte Gott hilft nicht auf magische Weise, sondern er leidet und stirbt. Vor allem aber leidet und stirbt er mit. Gott kennt Dein Leiden und Gott führt ins Leiden, selbst bis zum Tod - Bonhoeffer hatte das am eigenen Leib erfahren.
Das ganze ist in diesem Rahmen nur sehr schwer zu erklären. Das Zitat steht im Zusammenhang der ganzen Bonhoefferschen Theologie. Ich empfehle für ein besseres Verständnis das Buch "Nachfolge" von ihm. Teils etwas schwierig zu lesen, aber unheimlich aufschlussreich.
Schließlich noch ein Gedicht von Bonhoeffer, das er wenige Wochen vor dem o.g. Brief verfasst hatte:
Christen und Heiden
Menschen gehen zu Gott in ihrer Not, /
flehen um Hilfe, bitten um Glück und Brot /
um Errettung aus Krankheit, Schuld und Tod. /
So tun sie alle, alle, Christen und Heiden.
[Anm.: In dieser Strophe entdeckt man leicht die Anspielung auf den von Bonhoeffer verworfenen deus ex machina.]
Menschen gehen zu Gott in seiner Not, /
finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot, /
sehn ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod. /
Christen stehen bei Gott in Seinen Leiden.
[Anm.: Kursiv von mir hervorgehoben. M.E. eine Anspielung auf Mt 25,31-46]
Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not, /
sättigt den Leib und die Seele mit Seinem Brot, /
stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod, /
und vergibt ihnen beiden.
[Anm.: So sehen die tatsächliche Offenbarung und das Handeln Gottes nach Bonhoeffer aus. Gott sättigt mit "Seinem Brot", stirbt und vergibt. Was für ein Gegensatz zum deus ex machina!]