Zu spät oder viel zu spät?
Letztens war ich (dankbarer) Besucher einer Veranstaltung in der ein jüdischer Holocaust-Überlebender und ein nichtjüdischer Jurist auf der Bühne waren. Am Rande des eigentlichen Themas diskutierten sie über die Sinnhaftigkeit jüngerer Prozesse wie der gegen eine Sekretärin des KZ Stutthof.
Der Holocaust-Überlebende hinterfragte den Sinn gegen eine über 90jährige Frau mit mehreren Urenkeln noch einen Prozess anzustrengen. Er meinte es wäre (auch gegen sie) zu spät.
Der Jurist dagegen stimmte zwar zu, meinte aber juristisch gesehen wäre es „zwar zu spät, aber nicht viel zu spät“. Er argumentierte es gäbe nun eine Art Präzedenzfall für eine Beihilfe am Massenmord.
Ich kann beide Positionen gut nachvollziehen, jedoch empfinde ich diese Prozesse als beschämend zu spät. Wie steht der ZdJ zu diesen zu späten Prozessen?
1 Antwort
Die in den vergangenen Jahren und derzeit laufenden Gerichtsverfahren gegen NS-Täter kommen in der Tat eigentlich viel zu spät. Wir halten sie dennoch für gerechtfertigt und notwendig. Die Opfer tragen an den Folgen der Verbrechen ihr Leben lang. Warum sollte man die Täter verschonen, nur weil sie inzwischen alt sind? Zudem haben diese Verfahren auch eine aufklärerische Wirkung. Mord verjährt nicht. Auch juristisch sind die Verfahren absolut legitim. Der Präsident des Zentralrats der Juden, Dr. Josef Schuster, hat dazu gesagt: „Für die Überlebenden der Schoa und ihre Nachkommen ist es sehr wichtig, dass die Justiz versucht, eine Form der späten Gerechtigkeit zu finden. Nach den Versäumnissen in den 1950er und 1960er Jahren sollten die jetzt noch lebenden Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Fast alle Holocaust-Überlebenden leiden bis heute an den Folgen der Misshandlungen und ihren Traumata. Doch nicht nur für die Opfer und ihre Nachkommen sind solche späten Gerichtsverhandlungen von Bedeutung. Unserer Gesellschaft führen solche Prozesse noch einmal vor Augen, zu was Menschen fähig sind. Sie zeigen, wohin Hetze gegen Minderheiten führen kann. Die gibt es heute wieder, und sie mündet leider oft in Gewalt.“
Vielen Dank für die Antwort, das sind gute, nachvollziehbare Punkte.