Worum geht es in dem Gedicht "Alltag" von Robert Gernhardt?

3 Antworten

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Für mich klingt das Gedicht schrecklich monoton, wie das Logbuch eines Roboters. Keine Objekte, keine Adjektive, nur er ganz allein ist mit sich selbst beschäftigt. Erst gegen Ende, nachdem er betrunken ist, kommt etwas Leben rein:

Ich amüsiere mich etwas.

Und nur in den letzten beiden Ich-Zeilen entdecke ich sogar Gefühle:

Ich fühle mich sehr müde. 
Ich lege mich schnell hin.

Ist das alles, wofür er lebt? Müde werden und sich hinlegen? Um dann, kurz vor dem Einschlafen noch im Suff zu philosophieren? Die scheinbar tiefgründige Frage am Ende ist ja sofort als — höflich formuliert — unausgegoren enttarnt (man könnte auch "dumm" sagen). Aber zweimal "mal" klingt nicht gerade so, als würde er unbedingt auf eine Antwort brennen. Wahrscheinlich stellt er sich diese Frage aus Gewohnheit jeden Abend vor dem Einschlafen.

Ich möchte ihn am liebsten wieder wachrütteln: "Frag' Dich lieber, was aus Dir werden soll, solange Du noch bist! Fang endlich an zu leben!". Vielleicht wacht er aber auf und erwidert:

"Lass mich, ich beschwere mich nicht. Wenn ich auf dich hörte, dann lautete mein Gedicht so:

Ich erhebe mich mühsam.
Ich kratze mich lustlos.
Ich wasche mich gründlich.
Ich ziehe mich ordentlich an.
...
Ich ärgere mich fürchterlich.
Ich beschwere mich heftig.
...
Ich entschuldige mich beschämt.
...
Ich betrinke mich sinnlos.
...

Will ich mir das wirklich antun?"

Darauf fällt mir nichts mehr ein. Wieviele solche Menschen mag es wohl geben, die kein Leben haben und es auch gar nicht wollen?


Nachtrag: LolleFee weist darauf hin, dass Ich und Mich verschieden sein könnten. Das inspiriert mich zu folgender Deutung:

Was soll aus meiner Seele werden, 
wenn mein Körper nicht mehr ist.

So betrachtet ist es keine dumme Frage mehr. Aber aus dieser Perspektive liest sich das ganze Gedicht so, als stünde er den ganzen Tag neben sich und beschreibt nur, was sein Körper macht. Dadurch klingt es noch erbärmlicher, wie er dabei nur sich, aber kein Frühstück, keinen Bus, keine Kollegen, keinen Chef und keinen Kneipenwirt sieht.

Fazit: Ich bin schon beeindruckt, wie Gernhardt ein so trostloses Leben in so wenig Worte fassen kann. Aber ich wünsche mir sehnlich, wie LolleFee ein bisschen Ironie dahinter entdecken zu können.

Vielleicht liest jeder ja nur das heraus, was er selbst kennt?

Jein.

Was Gernhardt da beschreibt, ist natürlich ein Tagesablauf; allerdings geht es weniger um diesen selbst, beachtet man die Ironie!

Der ganze Tagesablauf beginnt mit "Ich" und enthält nur reflexive Verben. Das ist zwar auffällig, aber zunächst werden sie "ganz normal" gelesen. Durch den letzten Satz allerdings: "Was soll aus mir mal werden, // wenn ich mal nicht mehr bin?" wird die (oder zumindest meine...) Wahrnehmung der reflexiven Verben verfremdet, als handelte es sich bei "ich" und "mich bzw. mir" um zwei Personen.

Zur Verdeutlichung: Stell Dir vor, "ich" hieße Klara und "mich bzw. mir" hieße Paul - dann lautete der letzte Satz: "Was soll aus Paul mal werden, // wenn Klara mal nicht mehr ist?" Und auch der ganze Tagesablauf änderte sich dahingehend.

Für mich geht es in dem Gedicht um das augenzwinkernde Spiel mit der Ich-Bezogenheit des Lebens.


W0mb4txAmii 
Beitragsersteller
 21.06.2015, 23:41

Danke das ist sehe hilfreich gewesen! Ich habe für meinen Vortrag eine 2 bekommen aber leider konnte ich das was du geschrieben hast nicht mehr miteinbringen (zusätzlich gelesen). Dies war das einzige was mir fehlte.:)

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Sag nicht irgendeine person sondern "lyrisches ich"


W0mb4txAmii 
Beitragsersteller
 14.06.2015, 23:41

Dankeschön. Werde ich machen.

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