Worin sieht Wittgenstein den Unterschied zwischen Sachverhalt und Tatsache?

2 Antworten

Vom Beitragsersteller als hilfreich ausgezeichnet

Wenn ich sage, der Kölner Dom ist 37 km hoch, beschreibe ich einen Sachverhalt, dessen Wahrheit aber offen ist. Eine Messung wird ergeben, dass der Kölner Dom 157,38 m hoch ist und der von mir beschriebene Sachverhalt nicht der objektiven Tatsache entspricht, also als Sachverhalt in die Kategorie "falsche Aussage" gehört. Sachverhalte sind Aussagen, getragen von unserer Interpretation der realen Welt. Tatsache ist der betroffene Ausschnitt der realen Welt. Fallen Tatsache und Sachverhalt zusammen, ist meine Aussage, mein dargestellter Sachverhalt wahr.

Ich bin kein Wittgenstein-Fan. Für einen Sprachphilosophen formuliert er sehr schwammig und unpräzise.

Zu 1.1 ist zu sagen, dass auch eine Liebesbeziehung eine Tatsache ist, aber kein Ding. Eine gesetzliche Bindung ist eine Tatsache, aber kein Ding, höchstens das Stück Papier, auf dem die Vereinbarung festgehalten wurde. Auch naturgesetzliche Zusammenhänge sind Tatsachen, aber keine Dinge sondern Beziehungen zwischen Dingen. 1.1 soll also Kants "Welt an sich" beschreiben unabhängig davon, ob wir alle Tatsachen kennen.

Zu 2.04: Wenn Sachverhalte ungleich Tatsachen sind, dann beschreibt Wittgenstein hier die von uns "erkannte Welt", nach Schopenhauer "die Welt als Vorstellung". Hier ist er einfach ungenau, denn die Abgrenzung von "Welt an sich" und "Welt als Vorstellung" (Kant: "Noumenon") existiert ja bereits.

Zu 2.034: Auch schlampig. Die wahre Struktur der Tatsachen, sprich der "Welt an sich" kennen wir nicht. Alles, was wir z.B. als Naturgesetze und somit Strukturen der Welt beschreiben sind Hypothesen, Sachverhalte, die mehr oder weniger als "wahr" gesichert sind. Wenn sich die wissenschaftlich erforschten Strukturen der beschriebenen Sachverhalte als nicht wahr erweisen, gehören sie zur Menge der "nicht wahren Aussagen", wovon die die Sammlung der Sachverhalte voll ist. Es müsste umgekehrt heißen: Die Struktur der Tatsache kommt zumindest teilweise in den als wahr erwiesenen Strukturen der Sachverhalte zum Ausdruck. Die Struktur der Tatsache kennen wir nicht. Wir nähern uns ihr nur über als richtig getestete Aussagen an.


avionicsmaster6 
Beitragsersteller
 13.07.2016, 09:59

Vielen Dank, sie waren mir eine große Hilfe. Ja, Erkenntnistheoretisch war man auch vor Wittgenstein schon weiter, das stimmt...

0
grtgrt  22.07.2016, 14:59

Ich kann Berkersheim hier überhaupt nicht zustimmen, denn:

Nur eine Aussage kann wahr oder falsch sein. Ein Sachverhalt aber existiert auch ohne dass man ihn beschrieben (oder durch eine Aussage bewertet) hat: Ein Sachverhalt ist eine existierende Beziehung zwischen Objekten oder Begriffen.

Ich kann keinerlei Unterschied erkennen zwischen den Begriffen Sachverhalt und Tatsache (aber natürlich kann es Tatsachen geben, deren jede mehr als nur einen Sachverhalte zum Gegenstand hat).

Hätte Wittgenstein es anders gesehen, stünde seine Aussage

" 1.1 Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge. "

in krassem Widerspruch zu seiner Aussage 

" 2.04  Die Gesamtheit der bestehenden Sachverhalte ist die Welt. "

0
grtgrt  22.07.2016, 21:21
@grtgrt

Das mit einem Sachverhalt eine Beziehung zwischen Objekten oder Begriffen gemeint ist, geht auch hervor aus Wittgensteins Aussage

" 2.01  Der Sachverhalt ist eine Verbindung von Gegenständen. (Sachen, Dingen.) "

0

An dieser Stelle möchte ich mich an "Berkersheim" Ausführungen anschließen:

In einem Brief (datiert vom 28.06.1919) an Wittgenstein geht Gottlob Frege genau auf dieses „Problem“ ein, wenn er schreibt: „Sie schreiben: „Es ist für das Ding wesentlich, der Bestandteil eines Sachverhalts sein zu können“. Kann nun ein Ding auch Bestandteil einer Tatsache sein? Der Teil des Teils ist Teil des Ganzen. Wenn ein Ding Bestandteil einer Tatsache ist und jede Tatsache Teil der Welt ist, so ist auch das Ding Teil der Welt. Zum besseren Verständnisse wünsche ich Beispiele, schon, um zu sehen, was sprachlich der Tatsache, dem Sachverhalte, der Sachlage entspricht, wie sprachlich eine Tatsache, ein bestehender und etwa ein nicht-bestehender Sachverhalt bezeichnet wird und wie das Bestehen eines Sachverhalts und also die dem Sachverhalt entsprechende Tatsache bezeichnet wird, ob sich dabei ein wesentlicher Unterschied zwischen einem Sachverhalte und der Tasache ergibt. Ein Beispiel möchte ich haben dafür, daß der Vesuv Bestandteil eines Sachverhalts ist. Dann müssen, wie es scheint, auch Bestandteile des Vesuvs Bestandteile dieser Tatsache sein; die Tatsache wird also auch aus erstarrten Laven bestehen. Das will mir nicht recht erscheinen.“


verreisterNutzer  13.07.2016, 14:43

Da ich schon auf einen Brief abstellte - hier noch ein Satz von Wittgenstein selbst zu diesem Begriffs"paar" - in einem Antwortbrief an Bertrand Russel: "Sachverhalt is what corresponds to an Elementarsatz if it is true. Tatsache is what corresponds to the logical product of elementary propositions when this product is true."

0
berkersheim  13.07.2016, 22:45
@verreisterNutzer

Oh danke. Das ist ja interessant. Mit diesen Definitionen schränkt Wittgenstein ein: Sachverhalt umfasst demnach nur Elementarsätze, die wahr sind, also den Tatsachen entsprechen. Wie nennt er dann nicht ganz wahre oder sogar richtig falsche in Elemtarsätzen ausgesagte Sachverhalte? Tatsache sind nicht nur wahre Sachverhalte sondern auch richtige Aussagen, wenn sie logische Ergebnisse elementarer Hypothesen sind. Was wenn logisch richtig verknüpfte teils falsche Hypothesen bei entsprechenden Schritten dennoch zu richtigen Ergebnissen führen. Dabei wird hier deutlich, dass nicht eingegrenzt wird, wie exakt richtig das Produkt der logischen Verknüpfungen sein muss, d.h. welchen Realitätsgrad es haben muss. Unter diesen Definitionen bleibt mein Einwand zu 2.04 dennoch richtig. 2.034 bleibt nur richtig, wenn ein Sachverhalt eine Tatsache aussagt. Da es aber wahrscheinlich mehr Tatsachen als Sachverhalte gibt, kann nicht von der kleineren Menge auf die größere geschlossen werden.

0