Wieso gilt yiddish nicht als deutsch?

6 Antworten

Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet

Gesprochenes Jiddisch ist für einen Goj nicht leicht zu verstehen. Man kann zwar im­mer mal einzelne Wörter und Satzfragmente aufschnappen, aber der ganze Zu­sam­men­hang bleibt oft unklar. Das liegt primär an den vielen hebräischen und vor allem slavischen Wörtern im Jiddischen, und auch an den vielen Idiomen. Von der Gramma­tik her ist Jiddisch ziemlich dasselbe wie Deutsch, minus ein paar aufgegebene Fea­tures (Genitiv, Präteritum — beides ist mir als Bairisch-Sprecher nicht unbekannt) plus eine innoviertes Präsenspartizip.

Geschriebenes Jiddisch läßt sich leichter verstehen, weil man sich mehr Zeit für einen Satz nehmen kann. Da kann ich mich durcharbeiten, ohne die Sprache je gelernt zu haben (Wörterbuchhilfe ist immer willkommen).

Diese beschränkte Verständlichkeit liegt natürlich daran, daß sich Deutsch und Jid­disch vor nicht allzu langer Zeit, nämlich erst am Ende des Mittelalters, voneinander getrennt haben; also liegt Jiddisch phylogenetisch innerhalb der hochdeutschen Dia­lekt­grup­pe und ist damit anderen etwas exotischen hochdeutschen Dialekten ver­gleich­bar — was dabei „exotisch“ ist,hängt auch von der Perspektive ab, aber ich finde alemannische Dialekte sehr schwer verständlich, und beim Höchstalemannischen aus der Schweiz muß ich die Segel gänzlich streichen. Trotzdem gelten die oft nicht als eigene Spra­che (vermutlich sehen Schweizer das anders, und vermutlich haben sie dabei recht).

Die Unterscheidung zwischen Sprache und Dialekt ist ja keine linguistische. Damit ein Dialekt als „Sprache“ gilt, sollte er möglichst viele der folgenden Punkte erfüllen:

  • Geringe Verständlichkeit zu verwandten Sprachen und Dialekten
  • Eigene Schriftform mit eigenen orthographischen Standards
  • Eigene Literatur
  • Verwendung in Administration, Schulwesen, Wissenschaft, …
  • Regelmäßige Publikation in Zeitungen, TV/Kino, Literatur

Das sind größtenteils politische und soziale Faktoren, keine sprachlichen. Deshalb können sie auch leicht mißbraucht werden — sieh Dir doch alle die Sprachen an, die aus „Serbokroatisch“ hervorgegangen sind (Serbisch, Kroatisch, Bosnisch, Monte­negrinisch). Die wurden alle zuerst als „Sprachen“ definiert und erreichten erst danach durch aktive Sprachpolitik einen gewissen, eher moderaten Grad an Unterschiedlich­keit, der etwa dem zwischen entfernteren deutschen Dialekten entspricht und die teil­weise auch in der Schriftform weitgehend übereinstimmen.

Viele Sprachen haben auch gar keine Schriftform, und damit fallen einige Punkte ganz oder teilweise weg. Selbst die, die eine Schriftform haben, können oft nicht alle Punk­te erreichen, weil es ihnen an Sprecherzahl ermangelt — so gibt es z.B. keine breto­nisch­sprachige Universität, aber das macht Bretonisch nicht zu einem Dialekt (von was? Walisisch?)

Damit verglichen ist Jidddisch ein eher klarer Fall

  • Jiddisch ist sprachlich eigenständig genug, und es gibt auch keine Übergangs­dialekte, die das Bild verkomplizieren.
  • Die Schriftform ist vorhanden und kann die Unterschiede zu Deutsch gut festhal­ten, weil sie das jiddische Vokalsystem scharf wiedergibt und vom deutschen abgrenzt.
  • Literatur gibt es noch und nöcher, und sie ist bezüglich Inhalt und Stil sehr eigenständig.
  • Jiddisch hat zwar keinen offiziellen Status, aber wird zumindest von seinen Sprechern sehr gepflegt.
  • Publikationen, von Romanen bis zu Webseiten, gibt es auch.

Also ich finde das schon einigermaßen überzeugend, obwohl es natürlich auch Leute gibt, die Jiddisch als einen sehr abweichenden hochdeutschen Dialekt ansehen.

Keine Antwort zu diesem Thema ist vollständig ohne das berühmte Zitat

אַ שפּראַך איז אַ דיאַלעקט מיט אַן אַרמיי און פֿלאָט
a shprakh iz a dialekt mit an armey un flot

und vermutlich brauche ich es Dir nicht zu übersetzen. Falls doch, hier eine sehr freie Wiedergabe: Wenn ein Dialekt genug Prestige und (politischen, ökonomischen, sozia­len) Einfluß erlangt, dann gilt er als Sprache.

Woher ich das weiß:Hobby – Angelesenes Wissen über Sprach­geschich­te und Grammatik

Aus dem gleichen Grund, warum auch Niederländisch kein Deutsch ist: Es sind unterschiedliche Sprachen.

Gruß, earnest

...weil Jiddisch eine eigene Sprache und nicht Deutsch ist?

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Doktor der Englischen Sprachwissenschaft

Weil es eine andere Sprache ist. Die nutzt nichtmal lateinische Buchstaben.


Tannibi  04.08.2022, 11:23

Die Schreibweise hat für die Einsortierung als
Sprache keine Bedeutung.

1