Wie werden im heutigen Tschechien die nach Kriegsende an Deutschen begangenen Gräuel-und Schandtaten gesehen?

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Es ist nach wie vor ein Tabuthema und wird erst seit kurzem vorsichtig versucht aufzuarbeiten. Viele dürften aber der Meinung sein, dass die Vertreibung legitim war, nach dem Nazis rund 360.000 Tschechen ermordet hatten.

Juden, die deutsche Staatsbürger waren, waren von Repressalien ausgenommen, bekamen aber, aufgrund der politischen Entwicklung hin zum Kommunismus ihr altes, arisiertes, Eigentum dennoch nicht zurück. Sie konnten aber bleiben, da sie als unschuldig galten.

Die rund 2,9 Mio. Betroffenen wurden ausgebürgert. 220.000 Deutsche blieben im Land, ebenso eine unbekannte Anzahl Deutscher, die mit Tschechen verheiratet waren - sie zählten als wichtige Arbeitskräfte.

Außer der Ausbürgerung und Enteignung gab es von staatlicher Seite kein Dekret oder Gesetz, dass sich mit einer "Abschiebung" oder "Vertreibung" befasst (Präsens weil immer noch gültig). Wer freiwillig ging, konnte so viel mitnehmen, wie er wollte.

Völkerrechtlich fragwürdig sind die "wilden" und spontanen Vertreibungen im Zuge des Vorrückens der Roten Armee, des Prager Aufstands und einer Ansprache Beneš im Mai 1945. Die betraf ca. 800.000 Deutsche.

Ab Januar 1946 verlief dann die Aussiedlung geplant und organisiert. Das betraf noch rund 2 Millionen Deutsche. Wer so lange wartete durfte nur noch 30 kg Gepäck, später 50 kg, mitnehmen und Lebensmittel für drei Tage.

Opferzahlen sind kaum zu ermitteln und liegen zwischen 15.000 auf der einen Seite und 200.000 auf der anderen Seite. Interpretationssache ist hier die Todesart und -umstände und vor allem die "ungeklärten Fälle" und ob diese als Todesfall gerechnet werden oder nicht. Auch wechselnde Staatsangehörigkeiten machen eine Zählung schwer, denn von der Vertreibung waren nicht nur Deutsche Betroffen!

Ohne Nazis und Gräueltaten in der ganzen Welt und an Tschechen und in Tschechien hätte es auch keine Vertreibung gegeben! Die Deutschen in der Tschechoslowakei standen der jungen Republik seit ihrer Gründung 1918 illoyal gegenüber; sie sehnten den Nationalsozialismus herbei; nach dem Münchner Abkommen wurden hunderttausende Tschechen vertrieben; 1939 die Resttschechei gewaltsam besetzt; als zweisprachige leisteten Deutsche in Tschechien den Nazis wertvolle Dienste;

Erst langsam kommt auch in Tschechien eine Aufarbeitung voran. 2005 entschuldigte sich die Regierung ob der versehentlichen Vertreibung von Nazi-Widerstandskämpfern. 2006 erschien ein gefeiertes Buch, das sich mit dem Thema befasst: "Peníze od Hitlera" (wörtlich: "Geld von Hitler", verkauft auf deutsch als "Ein herrlicher Flecken Erde"). Ein erster Anfang einer kollektiven Aufarbeitung.

2010, zur besten Hauptsendezeit, strahlte das tschechische Fernsehen eine Doku aus "Töten auf Tschechisch" ("Zabíjení po Česku"), die sich mit Massenmorden und den wilden Vertreibungen befasst. Daraufhin meldeten sich mehrere Zeugen und ein zweiter Teil erschien ("Sag mir, wo die Toten sind") bei dem man die Entdeckung von Massengräbern begleitete.

2015 lud der Oberbürgermeister von Brünn/Brno die Botschafter aus Deutschland und Österreich ein um an einem Gedenkmarsch teilzunehmen und die Stadtverwaltung beschloss eine offizielle Entschuldigung.

Václav Havel sagte 2009 zu dem Thema:

Aber mit einer Entschuldigung ist das eine komplizierte Sache. […] So, als ob wir uns mit einem ‚Tut leid‘ plötzlich aus der historischen Verantwortung davon stehlen könnten.
Woher ich das weiß:Hobby

Koehlerlisl 
Beitragsersteller
 03.06.2024, 13:56

bei Youtube gibts auch ein gutes Video dazu!

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