Welche Rolle spielt das soziale Umfeld bei der Entwicklung des Selbstbilds?

2 Antworten

Von Experte rotesand bestätigt

Ich glaube das spielt die größte Rolle überhaupt.


vanOoijen  12.03.2024, 21:56

Vielen Dank für den 🌟.

0
rotesand  02.03.2024, 17:41

Siehe meine Antwort, ich habe dazu deutlich ausgeführt.

Du hast das in wenigen Worten komprimiert; danke dafür.

2

Eine große Rolle, wenn nicht sogar die Tragende. Dazu soviel: Mein Umfeld in meiner Heimat war offen gesagt problembehaftet, wenn man es im Ganzen betrachtet und rein sachlich sieht. Die familiären Verhältnisse waren zwar solide und bürgerlich, aber verworren und das Umfeld in Sachen Nachbarschaft, Realschule, Vereinswelt und "Ortsgemeinschaft" im Stadtteil hatte durchweg auch seine Schattenseiten. Dieses Umfeld kann aus meiner Sicht gespaltene Persönlichkeiten erziehen, die ich letztes Jahr zum Teil auf meinem Klassentreffen wieder erleben durfte, aber auch schon in frühester Kindheit ertragen musste.

Jahrelang lebte ich in dem Glauben, ich dürfe mich selbst weder kompetent noch seriös noch attraktiv noch sympathisch oder sonst wie positiv finden. Ich schämte mich teilweise eher für meine beruflichen und privaten Erfolge, als dass ich dazu stand, weil mir eingetrichtert wurde, man müsse "demütig und geduckt" sein. Kaum ein Wort fiel so oft wie das Wort "demütig"; na ja, "brav" viel auch oft. Man musste "brav sein" im Sinne von geduckt, demütig, unauffällig, bescheiden und fromm - alles andere war unerwünscht, auf der anderen Seite "musste man was darstellen" (im Nachhinein würde ich auch sagen, dass Neid eine große Rolle spielte) und man konnte es den Leuten nie Recht machen, egal was man gemacht hat. Nur zwei Beispiele: Mir wurde jahrelang der Kauf eines gebrauchten Mercedes C180 als protzig und überzeichnet vorgehalten und es hieß, ein kleineres ausländisches Fabrikat hätte es doch auch getan, einer meiner Freunde galt jedoch wegen seines Fiat Croma (keine Schrottkiste, sondern ein Jahreswagen, das war ca. 2011) als unseriös und bekam zu hören, es hätte ruhig mehr sein können, warum er bei seinem Einkommen nicht zumindest einen "guten Mercedes" fahren würde. Es gab zudem Leute, die erzählten, Hinz und Kunz habe seine Wohnung "aber zu piekfein eingerichtet, der ist sicher arrogant, der meint, er wäre was Besseres, net" und im Gegenzug hätte es bei einer eher schlicht möblierten Wohnstube geheißen, er hätte "es nicht fein genug, der hat ja auch kein Geld groß, net". So war das - so und nicht anders. Einerseits war ich der Ausländer, andererseits der Akademikertrottel und Mercedesfahrer, der zu blöd sei für die Landwirtschaft und die Fabrikarbeit und das Handwerk und "ja keinen Schrebergarten hat, net" - irgendwann litt ich unter Herzrasen, Paranoia, Bluthochdruck und Alpträumen, vor allem nach einem Lauschangriff und Bespitzelungen stasimäßigen Charakters sowie Übergriffen der unfeinsten Art. Ich fühlte mich elend und am Ende dachte ich, ich sei schuld an der Misere und ging zum Psychologen, der nur meinte ... ich sei weder krank noch müsse ich in Behandlung, es sei das Umfeld.

Kaum war ich dann aber aus beruflichen und persönlichen Gründen umgezogen, blühte ich nach kurzer Zeit auf. Ich bin heute der, der ich vor Jahren schon gern gewesen wäre und ich muss sagen ... ich mag mich. Ich finde mich als Typ sympathisch, mit allen Fehlern und Charakterzügen, mit allen Stärken und Talenten; ich weiß, dass ich als Mann attraktiv bin, dass ich einen guten "Style" habe, dass ich beruflich "jemand bin" und dass ich von den Leuten wirklich gemocht werde - aufgrund meiner beruflichen Kompetenz, aber auch aufgrund meiner Art. Ich finde mich selbst sympathisch, ich mag mich, ich bin zufrieden und ich zehre täglich davon, dass mein Umfeld das alles reflektiert.

Dazu erkenne ich heute ganz starke Parallelen: In der Grundschule war ich ein fröhlicher, offener und selbstbewusster Junge und es wurde in einem Zeugnis (2. Klasse glaube ich) gelobt, dass ich gut singen könne und im Musikunterricht besondere Stärken hätte; es hieß, ich sei freundlich, zuvorkommend und anteilnehmend. Ich war der unverkrampft Lustige, der Nette; ich war Solist im Schulchor, bei Auftritten umjubelt sogar von Erwachsenen. Die Klasse war aber auch harmonisch und die Lehrer sowie der Rektor haben es gut gemeint, die Atmosphäre war wertschätzend und unbeschwert. Ich war so, wie ich eigentlich bin, weil ich mich total wohl fühlte und jeden Tag gern zur Schule ging.

In der Realschule war dann alles trist, grau und es gab in der fünften und sechsten Klasse viele Probleme und schlimme Lehrer, die Klassengemeinschaft war nicht vorhanden und jeder war gegen jeden. Ich weiß es noch genau, ich fühlte mich wie ein Gefangener. Anfangs war ich noch ganz der Alte, aber schon nach wenigen Wochen habe ich resigniert und die Realschule gehasst, bis ich Schulangst hatte. Es waren sechs graue und grausame Jahre. Ich habe das halt durchgezogen weil ich wusste, ich habe keine Alternative.

An der Berufsschule sowie in der Ausbildung konnte ich mich dann wieder frei entfalten und war genauso locker und unverkrampft wie an der Grundschule, ich war Klassensprecher, stellvertretender Stufensprecher und "ein Typ, den man kannte" an der Schule, obwohl ich nur zwei Tage pro Woche im Rahmen meiner Ausbildung dort beschult wurde. Ich war in der SMV, ich war sehr gerne dort, ich hatte eine tolle Klasse, eine nette Freundin, einen super Ausbilder und nette Kollegen sowie nette Mit-Azubis in der Firma es hat alles gepasst. Kaum war ich allerdings nach meiner Ausbildung wieder auf meine Heimatstadt abonniert (ohne Berufsschule) und dort beruflich tätig und im Ehrenamt unterwegs und im Gemeinderat, war ich wieder in den alten Paradigmen gefangen und sah mich als einen an, der sich eher runterzubuttern und zu kritisieren als zu loben oder sich als sympathisch oder kompetent oder gutaussehend oder sonst was zu wähnen.

Ich bin von Grund auf ein offener, freundlicher, geselliger und "gütiger" Mensch, das kann ich auch in meiner Wahlheimat privat und auf der Arbeit voll ausleben und merke, dass ich genau deswegen Erfolg habe - und ich kann heute sagen, ich mag mich. Wenn ich in meiner Heimat betont hätte mich selber zu mögen, hätte ich eine ziemliche Abfuhr erhalten von wegen "aber Junge, sei demütig, sei demütig, sonst bläst dir bald ein eisiger Wind ins Gesicht, lass dir's sagen, wirst schon sehen, sei demütig, demütig". Genau so wurde es mir mal gesagt, als ich mir mit Anfang 20 mal eine hochwertige Armbanduhr gegönnt habe, auf die ich sehr stolz war und die ich jemandem zeigte, der sowohl diese Uhr als auch mich persönlich daraufhin niedergemacht habe. Wo ich jetzt wohne, würde man sich mit mir freuen und ohne Neid sagen, Mensch, da hast du aber eine tolle Uhr, das hast du richtig gemacht, dass du dir mal was geschenkt hast.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung