Was sagt Metzinger über das Bewusstsein bzw. das Ich und was d Descartes?

2 Antworten

Um die Gedanken der Autoren vollständig kennenzulernen, ist es nötig Bücher oder Ausschnitte aus Büchern zu lesen. Versucht werden kann nur eine Kurzdarstellung mit wesentlichen Aussagen.

René Descartes

René Descartes versucht in der 2. Meditation - Meditationes de prima philosophia (Meditaionen über die Erste Philosophie, 1641) - als Grundlage etwas Unbezweifelbares aufzuweisen. Wenn/solange ich zweifle, ist kein Zweifel möglich, daß ich zweifle und ich es bin, der zweifelt. Das Denken erfaßt unmittelbar: Denken schließt eine Existenz des in diesem Augenblick Denkenden ein und wer tatsächlich in einem Augenblick denkt, muß daher existieren. „Ich bin, ich existiere; das ist gewiss.“ (lateinisch: Ego sum, ego existo, certum est.); später - Principia Philosophiae (Prinzipien der Philosophie; 1644) auch: „Ich denke, also bin ich.“ (Ego cogito, ergo sum.)

Die Denkhandlung beim „ich denke“ (cogito) enthält allgemeine und begriffliche Bestimmungen und deren allgemein-notwendiges Verhältnis mit. Aus dem Ichvollzug folgt das Wissen um die Existenz des Ich und umgekehrt wäre das Ich nicht existent, wenn es nicht dächte. Daher existiert das Ich nur, wenn es denkt, und es denkt nur, wenn es existiert. Für das Ich ist im Denken sein Existieren gedanklich-notwendig inbegriffen (Anwendung des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch).

Bei René Descartes ist Denken (cogitatio) das Vollziehen einer Denkhandlung, das notwendig von einerm von ihr handelnden Mitwissen/Bewußtsein (conscientia) begleitet ist. Erkenntnis ist eine Vergegenwärtigung von etwas im Bewußtsein, die klar und deutlich ist.

Ich: Das Ich (ego) ist das, was das Denkhandlungen und die Denkinhalte hervorbringt. Das Ich versteht Descartes als denkendes Ding/denkende Sache (res cogitans). Es wird mit größerer Sicherheit erkannt als der Körper, der ein ausgedehntes Ding/eine ausgedehnte Sache (res extensa) ist.

Es gibt zwei grundlegend verschiedene Substanzen, res cogitans und res extensa. Damit besteht ein Dualismus von Geist und Materie. Der Begriff denkendes Ding/denkende Sache (res cogitans) ist bei Descartes bedeutungsgleich mit Geist (mens), Seele (animus), Verstand/Intellekt (intellectus) und Vernunft (ratio): res cogitans, id est mens, sive animus, sive intellectus, sive ratio (2. Meditation).

Bewußtsein: Das Bewußtsein (conscientia) ist ein Mitwissen, eine unmittelbar gegebene Kenntnis in die eigenen Gedanken, Das Bewußtsein ist ein wesentliches Merkmal des Geistes. Alles, was sich im Geist befindet, ist diesem bewußt. Denken ist ein Ausdruck, den Descartes oft in einer weiten Bedeutung verwendet.

René Descartes, Meditationes de prima philosophia. Dritte Einwände und Erwiderungen.

Sunt deinde alii actus quos vocamus cogitativos, ut intelligere, velle, imaginari, sentire, etc., qui omnes sub ratione communi cogitationis, sive conscientiae, conveniunt, atque substantiam, cui insunt, dicimus esse rem cogitantem, sive mentem, sive alio quovis nomine, modo ne ipsam cum substantia corporea confundamus, quoniam actus cogitativi nullam cum actibus corporels habent affinitatem, et cogitatio, quae est ipsarum ratio communis, toto genere differt ab extensione, quae est ratio communis aliarum. Postquam vero duos distinctos conceptus istarum duarum substantiarum formavimus, facile est, ex dictis in sexta Meditatione, cognoscere an una et eadem sint an diversae.

René Descartes, Meditationen : mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen. Übersetzt und herausgegeben von Christian Wohlers. Hamburg : Meiner, 2009 (Philosophische Bibliothek ; Band 598). S. 184:  

„Außerdem gibt es andere Akte, die wir gedankliche nennen, wie Einsehen, Wollen, Vorstellen, sinnlich Wahrnehmen usw., die alle unter der gemeinsamen Voraussetzung des Denkens, bzw. der Erfassung, bzw. des Bewußtseins stehen. Wir sagen, daß die Substanz, in der wir sind, ein denkendes Ding, bzw. ein Geist ist. Oder wir können ihr auch irgendeinen anderen Namen geben, solange wir sie nicht mit der körperlichen Substanz durcheinanderbringen. denn die gedanklichen Akte haben mit den körperlichen keine Verwandschaft, und das Denken, das ihre gemeinsame Voraussetzung ist, unterscheidet sich in jeder Hinsicht von der Ausdehnung, die die gemeinsame Voraussetzung der anderen ist. Nachdem wir aber zwei unterschiedene Begriffe dieser zwei Substanzen gebildet haben, ist es leicht, aus dem in der sechsten Mediation Gesagten zu erkennen, ob sie eine und dieselbe sind oder verschiedene."

Descartes legt Stufen des Bewußtseins zugrunde:

1) Wachheit und Aufmerksamkeit

2) Gerichtetheit auf Gegenstände des Bewußwtseins

3) Reflexion

Thomas Metzinger

‚Ich‘ – das Personalpronomen der ersten Person Singular – bezeichnet immer die es aktuell verwendenden Sprechenden. Die Sprechenden stellen sich mit einem sprachlichen Werkzeug in einen Kontext (Zusammenhang) und zeigen auf sich selbst.

Ich/Ego bzw. Selbst kann mit dem Bewußtseinsinhalt eines Menschen zu einem Zeitpunkt gleichgesetzt werden.

Bewußtsein ist eine bestimmte Selbstgegebenheit. Thomas Metzinger beschäftigt sich mit dem phänomenalen Bewußtsein, dem Bewußtsein, wie es als Erscheinung subjektiv erlebt wird.

Thomas Metzinger vertritt eine Selbstmodell-Theorie der Subjektivität.

Es gibt real keine ‚Iche‘ bzw. ‚Selbste‘. Menschen haben in diesem Sinn weder ein Ich bzw. Selbst noch sind sie ein Ich bzw. Selbst. Sie haben ein Ich-Gefühl. Es gibt kein Ich bzw. Selbst als ontologische Substanz, unveränderliche Wesenheit oder besonderer Art von Ding. Es gibt nur das phänomenale Ich/Ego bzw. phänomenale Selbst. Es ist etwas Vorübergehendes, nicht Gleichmäßiges. Ich bzw. Selbst ist ein dynamischer Vorgang, nämlich eine Selbstorganisation einer sehr besonderen Art von repräsentationalem Inhalt (Inhalt, der in einer Darstellung für etwas steht, das er vertritt) in einer sehr besonderen Art von informationsverarbeitendem System. Zum Inhalt des phänomenalen Selbstmodells gehören die aktuellen Körperempfindungen, der gegenwärtige emotionaler Zustand und alle Inhalte der phänomenal erlebten Kognition.

Das phänomenale Ich/Ego bzw. phänomenale Selbst ist Ergebnis von komplexen Informationsverarbeitungs- und Darstellungsprozessen im zentralen Nervensystem (vor allem im Gehirn). Es wird letztlich (wesentlich oder in der Hauptsache) als ein komplexer Gehirnzustand verstanden.

Ein biologisches System erzeugt ein Weltmodell (Simulation, die so gut ist, ein Bild der Welt darzustellen, das nicht als bloßes Bild erkannt wird) und ein Selbstmodell, das in das Weltmodell eingebettet wird. Eine Summe von Daten in einem schnell ablaufenden Datenstrom wird zusammenfassend als in einer Ganzheit zusammenhängend gedeutet und so in einer Simulation ein Selbstmodell geschaffen mit einem inneren Bild des Organismus als Ganzheit einer Person. Wesentlich bei der Simulation ist, daß der Modellcharakter des Selbstmodells nicht durchschaut wird. Die Menschen haben den Eindruck, unmittelbar auf Gehalte ihres Bewußtseins zuzugreifen und bemerken nicht die Strukturen und Prozsse, die als Mittel diese Gehalte des Bewußtseins hervorbringen.

Das Ich ist eine nützliche Fiktion der neuronalen Maschine Mensch.

Das phänomenale Bewußtsein hat bestimmte Merkmale wie:

  • Zentriertheit (es gibt einen Punkt, von dem etwas ausgeht und an dem etwas festgemacht werden kann)
  • Perspektivität
  • Einheit
  • Gegenwärtigkeit
  • Meinigkeit (als Ich erlebt und Inhalte als dem Ich zugehörig erlebt)

Thomas Metzinger, Der Ego-Tunnel : eine neue Philosophie des Selbst: von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik. Aus dem Englischen von Thomas Metzinger und Thorsten Schmidt. Erweiterte und aktualisierte Taschenbuchausgabe. München ; Zürich : Piper, 2014 (Piper ; 30533), S. 23 – 24:  

„Immer wenn unser Gehirn erfolgreich seine geniale Strategie der Erschaffung eines einheitlichen und dynamischen inneren Portraits der Wirklichkeit verfolgt, werden wir bewusst. Zuerst erzeugt unser Gehirn eine Simulation der Welt, die so perfekt ist, dass wir sie nicht als ein Bild in unserem Geist erkennen können. Dann generiert es ein Bild von uns selbst als Ganzheit. Dieses Bild umfasst nicht nur unseren Körper und unsere mentalen Zustände, sondern auch unsere Beziehung zur Vergangenheit und zur Zukunft sowie zu anderen bewussten Wesen. Dieses innere Bild der Person-als-Ganzer ist das phänomenale Ego, das ,Ich' oder ,Selbst', so wie es im bewussten Erleben erscheint. Daher verwende ich die Begriffe »phänomenales Ego« und »phänomenales Selbst« synonym. Das phänomenale Ego ist kein geheimnisvolles Ding und auch kein kleines Männchen im Kopf, sondern der Inhalt eines inneren Bildes – nämlich das bewusste Selbstmodell, das PSM. Durch die Einbettung des Selbstmodells in das Weltmodell wird ein Zentrum geschaffen, was wir als unser Selbst erleben, das Ego. Es ist der Ursprung dessen, was Philosophen oft die »Erste-Person-Persspektive« nennen. Wir stehen also nicht in direktem Kontakt mit der äußeren Wirklichkeit, aber trotzdem haben wir eine Innenperspektive. Wir wissen, wie man das Wort »ich« benutzt. Wir leben eine bewusstes Leben im Ego-Tunnel.“

PSM = Phänomenale(s) Selbstmodell

S. 102 - 103: „Menschliches Bewusstsein zeichnet sich durch verschiedene Formen von Innerlichkeit aus, die sich gegenseitig beeinflussen: Erstens ist es ein interner Vorgang im zentralen Nervensystem; zweitens erzeugt es das Erlebnis, in einer Welt zu sein; drittens vermittelt uns das virtuelle Gegenwartsfenster Innerlichkeit in der Zeit, es schenkt uns ein erlebtes Jetzt. Aber die tiefste Form von Innerlichkeit bestand in der Erschaffung einer internen Selbst-Welt-Grenze. In der Evolution entstand dieser Vorgang auf der physikalischen Ebene mit der Entwicklung von Zellmembranen und einem Immunsystem, das eindeutig festlegte, welche Zellen im eigenen Körper als eigene behandelt werden sollten und welche als Eindringlinge. 21 Milliarden Jahre später waren biologische Nervensysteme in der Lage, diese Unterscheidung zwischen Selbst und Außenwelt auf einer höheren Ebene darzustellen - zum Beispiel als Körpergrenzen, die durch ein integriertess, aber immer noch unbewusstes Körperschema umrissen wurden. Das bewusste Erleben erhob diese grundlegende Strategie einer Partitionierung, einer Aufteilung der Wirklichkeit auf eine bis dahin unbekannte Ebene von Komplexität und Intelligenz. Das phänomenale Selbst wurde geboren, und nach und nach trat das bewusste Erleben des Jemand-Seins hervor. Ein Selbstmodell, ein inneres Bild des Organismus als innere Ganzheit, wurde in das Weltmodell eingebaut, und auf diese Wesie begann sich die bewusst erlebte Erste-Person-Perspektive zu entwickeln.“

S. 280: „Letzlich ist subjektives Erleben ein biologisches Datenformat, also eine hochgradig spezifische Weise, Information über die Welt darzustellen, eine innere Weise des Gegebenseins, und das Ego ist lediglich ein komplexes physikalisches Ereignis – ein Aktivierungsmuster in unserem Nervensystem.“

Unterschiede zwischen René Descartes und Thomas Metzinger

  • Existenz von Ich und Bewußtsein: Nach der Auffassung von René Descartes existieren eindeutig Ich und Bewußtsein. Nach der Auffassung von Thomas Metzinger existieren sie real nicht, nicht als Ding, sie sind nur Simulation, eine virtuelle Realität (künstlich erzeugte Wirklichkeit). Es gibt nur ein Selbstmodell. Ich und Bewußtsein gelten als Fiktion und Illusion, wenn auch damit vielleicht nur ein bestimmtes Verständnis von Ich und Bewußtsein als realen Dingen gemeint ist.
  • Seinsweise: Nach der Auffassung von René Descartes ist das Ich ein Ding. Nach der Auffassung von Thomas Metzinger ist das Ich ein Vorgang.
  • zugrundegelegte Ontologie (Seinslehre): René Descartes vertritt einen Substanz-Dualismus von Geist (wozu Ich und Bewußtsein gehören) und Körper/Materie. Thomas Metzinger vertritt in Bezug auf Substanzen einen Monismus (der Tendenz nach einen Materialismus/Physikalismus). Ich und Bewußtsein werden von ihm als abgeleitet, nur sekundär gegenüber den zugrundeliegenden neuronalen Prozessen dargestellt.
  • Sicherheit der Erkenntnis von Ich und Bewußtsein: Nach der Auffassung von René Descartes ist die Existenz des Ich bei seinem Selbstvollzug gewiß. Es ist Träger des Denkens, ein unumstößlicher, einem radikalen Zweifel standhaltender Anfang des Wissens. Nach der Auffassung von Thomas Metzinger sind Ich und Bewußtsein trügerisch. Sie sind simuliert und bieten ein Bild/Modell.
  • Dauer: Nach der Auffassung von René Descartes sind Ich und Bewußtsein der Substanz nach dauerhaft. Nach der Auffassung von Thomas Metzinger sind phänomenales Ich und Bewußtsein vorübergehend.

Metzinger beschreibt Bewusstsein u.a. auf folgende Art und Weise:

Menschliches Bewusstsein zeichnet sich durch verschiedene Formen von Innerlichkeit aus, die sich gegenseitig beeinflussen: Erstens ist es ein interner Vorgang im zentralen Nervensystem; zweitens erzeugt es das Erlebnis, in einer Welt zu sein; drittens vermittelt uns das virtuelle Gegenwartsfenster Innerlichkeit in der Zeit, es schenkt uns ein erlebtes jetzt. Aber die tiefste Form von Innerlichkeit bestand in der Erschaffung einer internen Selbst-Welt-Grenze.“ [Metzinger, Der Ego -Tunnel, S.102] 

In der Cartesischen Lehre bleibt das Thema Bewusstsein mehr oder weniger „unsistiert“ – für Descartes bleibt es unbenommen, das etwas was im „Geiste“ erkennbar und deutbar wird zugleich Bewusstsein impliziert („Nichts kann im Geiste sein, dessen er [sc. Träger von Geist] bewusst ist.“) Aber und hier legt Descartes einen ersten wichtigen Baustein der einer, sagen wir einmal postcartesischen „Bewusstseinsphilosophie“ – Bewusstsein ist attentives, ist aufmerksames Denken (siehe dazu: Andreas Kemmerling „Descartes über das Bewusstsein“ In: Studia Philosophica 55 (1996), Jahrbuch der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft, 85-114, darin S.103-106, bes. S. 103ff)