Was meint Sokrates mit der Aussage "Wer liest, gibt sein Gedächtnis ab"?
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2 Antworten
Das vollständige Zitat lautet ja: "Wer liest, gibt sein Gedächtnis ab und besinnt sich nicht mehr auf sich selber."
Dieses Zitat wird zwar dem Sokrates zugeschrieben, doch ich bezweifle, dass dieser kluge Mann so eine Aussage getätigt haben könnte.
Beim Lesen wird der eingehende Inhalt des Textes doch ununterbrochen analysiert und gewertet, und er kann nur nach den Kriterien bewertet werden, die aus der Erinnerung des Lesers stammen. Beim Lesen findet doch ständig ein Vergleichen statt, also etwa: "Hätte ich mich ebenso verhalten?" oder "Ist die Gegenreaktion oder die Antwort des Protagonisten stimmig und situationsangemessen, oder sind wir hier mit einer sonderbaren, schwer nachvollziehbaren Überreaktion konfrontiert?" Beim Lesen denken wir doch auch stets daran, wie die Geschichte jetzt vermutlich weiter gehen könnte, und das wiederum können wir nur überlegen, weil wir unsere Erfahrungen aktivieren, aus denen wir dann die unterschiedlichen Möglichkeiten ersehen können.
Bilanz: Beim Lesen ist unser Gedächtnis stark gefordert. Unentwegt beurteilen wir, fragen, spekulieren, bilden Hypothesen, entwickeln neugierig mögliche zu erwartende Handlungsverläufe, sind überrascht, wenn die Geschichte anders als gedacht weitergeht, und geben sicher niemals unser Gedächtnis ab!
Beim Lesen durchgeht man die Gedanken eines anderen.