Warum wird die Historizität von Paulus nicht in Frage gestellt, obwohl es eigentlich keinen Beweis seiner Existenz gibt?
Hey.
Diese Frage kam mir neulich beim Nachlesen über die Paulus-Briefe im Neuen Testament in den Sinn: wieso wird, insbesondere von wissenschaftlicher oder atheistischer Seite, die Existenz des Apostels Paulus so gut wie niemals angezweifelt?
Zum Vergleich: bei Fragen zur Person Jesus kriegt man immerwieder zu lesen, er sei nur eine ausgedachte Figur, die niemals wirklich gelebt habe. Irgendjemand habe ein paar alte Mythen wie den des ägyptischen Gottes Horus kopiert und darauf basierend die Gestalt "Jesus Christus" erfunden. Dass diese Behauptungen auf falschen Annahmen basieren und bei genauerer Betrachtung garnicht haltbar sind, lassen wir jetzt mal außen vor.
Bei Paulus ist es aber komplett anders: so erkennt die Wissenschaft sieben seiner Briefe, darunter den Römerbrief, als authentische Paulusschriften an - und das, obwohl es außerhalb des Neuen Testamentes sowie einiger Schriften der Kirchenväter keine Hinweise darauf gibt, dass dieser Mensch überhaupt jemals existiert hat. Es gibt keine Berichte über ihn aus den Urgemeinden, keine "Nachrufe" auf ihn von seinen zahlreichen Schreibkontakten, keine Nachweise seiner zahlreichen und langen Reisen durch den Mittelmeerraum, keine römischen Prozessakten, kein Grab, keine Knochen, nichts. Es ist, als hätten wir es mit einem Phantom zu tun.
Zwar haben Sprachforscher aufgrund von auffälligen Textähnlichkeiten festgestellt, dass mehrere Paulusbriefe mit großer Wahrscheinlichkeit tatsächlich von ein und derselben Person verfasst wurden, aber das allein kann doch nicht als Beweis für die Existenz von Paulus ausreichen.
Mich würde einfach mal interessieren, warum gerade auch religionskritische Menschen bei Paulus so viel "nachgiebiger" sind, als bei Jesus.
16 Antworten
Warum sollte man die Historizität von Paulus anzweifeln? Selbst wenn man sämtliche Quellen für seine Existenz außen vor ließe und nur die Briefe analysieren würde, die ihm zugeschrieben werden, würde man feststellen, dass zumindest ein Teil davon sich glaubhaft auf einen gemeinsamen Autor zurückführen lassen und der Kontext der Briefe sowohl eine Datierung zwischen den 40er- und 60er-Jahren zulässt als auch eine innere Chronologie, die auch eine Entwicklung der paulinischen Theologie aufzeigt. So kann man z.B. sehen, dass Paulus den Thessalonichern noch geschrieben hatte, die Körper der Toten würden in Fleisch und Blut wieder auferstehen, während er den Korinthern - schon in Antwort auf Kritik an seiner Predigt - von einem "verklärten Leib" spricht. Der Glaube an eine fleischliche Auferstehung war im Judentum des 1. Jahrhunderts weit verbreitet, später wurde diese Vorstellung auch im Judentum abgelöst. Eine Fälschung, die noch dazu wesentlich später entstanden wäre, als das Leben Pauli gemeinhin datiert wird, ist eigentlich so gut wie ausgeschlossen, da der Schreiber viel zu genaue Kenntnisse der damaligen Lebensrealität und Denkwelt hätte mitbringen müssen, als dem damaligen Stand der "historischen Forschung" möglich gewesen wäre. Man hätte die Briefe schlicht nicht so perfekt fälschen können, wie es nötig gewesen wäre.
Sehr aufschlussreich, den Aspekt der "Glaubensevolution" habe ich garnicht bedacht. Vielen Dank für die Antwort =)
Hi,- Gegenfrage als Querdenker: wieso hängt die Analyse zu Sinn oder Unsinn in der Aussage eines Textes oder einer Textsammlung von der Zuordnung zu einer Person ab (außer für Religionshistoriker)?
Was macht den Unterschied bei der Textanalyse ob diese Person "historisch real" oder als "Sammelpseudonym" mehrerer (anonymer) Verfasser zu verschiedenen Zeiten einzuordnen ist (was für Geschichtsschreibung - auch kirchlich) ja nichts Ungewöhnliches wäre (außer für Religionshistoriker)?
Geht es also um die Be- und Auswertung der Entwicklung einer Person oder religionssystematischer / - historischer Aussagen?
Gruß
Ja,- das kann ich nachvollziehen. Bei der Erforschung von Religionen, sowohl als Gesamtphänomen wie auch als spezifische Ausformung sind natürlich auch Personen in ihrem jeweiligen historischen gesellschafts- und gruppenfunktionalen Kontext wie auch mit ihrem persönlichen Werdegang oft ein wichtiger Faktor. Da spielt das Interesse an einer bestimmten Person zur Erforschung des "Wieso-Warum-Weshalb" schon eine wichtige Rolle. Und auch die Frage ob Dokumente eher fragmentarisch- dezentral oder zentral und ob durch Personen oder Institutionen entstanden sind ist da nicht unbedeutend.
Es bezweifelt auch kaum ein ernsthafter Historiker die Existenz von Jesus ("Streit" gibt es erst ab der Auferstehung), einfach weil es genug christliche, jüdsche und römische Quellen git, die davon berichten.
Bei Paulus gibt es keine so klare Quellenlage (da nur christliche Quellen von ihm berichten), aber auch keinen Grund an seiner Existenz zu zweifeln.
Aber wer unqualifiziert die Grundlagen des Christentums in Frage stellen will greift natürlich Jesus an und nicht Paulus.
Wie willst Du noch mehr und andere Beweise für Personen finden, welche vor 2000 Jahren gelebt haben?
Da gäbe eine Menge Personen, die viel später gelebt haben und deren Existenz oder zumindest deren Geschichte sich auf viel weniger wichtige Quellen beruft und die trotzdem nicht bezweifelt werden.
Ich selbst bezweifle doch die Existenz von Paulus garnicht... Ich bin ja sogar von der Existenz von Jesus überzeugt, obwohl die Quellenlage hier noch düsterer ist als bei Paulus. Mich wundert es nur, dass selbst die kompromisslosesten Atheisten beim Thema Paulus überraschenderweise total passiv bleiben und seine Historizität quasi "einfach so" ohne jede Beanstandung akzeptieren. Und da habe ich mich gefagt, ob es vielleicht noch mehr Indizien für Paulus' Existenz gibt, die mir bislang entgangen waren... =)
Der Unterschied zu anderen Personen besteht darin, dass hier Texte von einer Person und nicht über eine Person vorliegen, auch wenn nicht alle angeblichen Paulusbriefe von der selben Person sind, so doch aber einige.
Dazu fällt mir ein Spruch ein:
Historiker haben festgestellt, dass die Illias gar nicht von Homer sondern von einem Zeitgenossen gleichen Namens stammt.
Mir geht es in diesem Falle tatsächlich eher um die Person. Es hat mich einfach überrascht, dass auch religionskritische Menschen und sogar Atheisten die Historizität von Paulus so gut wie niemals in Frage stellen, obwohl er ja von der Thematik Christentum/Religion/Glaube nicht zu trennen ist. Die einzige mir bekannte Seite, auf der Paulus kritischer hinterfragt wird, ist die englische "Rationalwiki" - und selbst die erkennt an, dass mindestens sieben der Paulusbriefe einen gemeinsamen Autor haben, ob er nun Paulus hieß, oder nicht.