Warum sprechen heutige Wissenschaftler bei der "Germania" des Tacitus von einem Beispiel für den Konstruktcharakter einer Seibst- und Fremdwahrmehmung?

2 Antworten

Bei Tacitus gibt es ein abschätziges Element ("Barbaren"), aber auch in Ansätzen das was wir im 18. und 19. Jahrhundert als den "edlen Wilden" nennen: Aufrichtigkeit, Einfachheit usw,

Edler Wilder – Wikipedia

Von Experte ArnoldBentheim bestätigt

Das ist doch recht einfach: Tacitus zeichnet kein realistisches Bild Germaniens. Manche Details mögen zwar stimmen, aber bei vielen Stellen lassen sich die Abweichungen von der Wirklichkeit durch andere Quellen belegen.

In seiner ethnozentrischen Darstellung wird das fremde Volk an den Maßstäben des eigenen gemessen und erscheint als dessen verzerrtes Spiegelbild, als „verkehrte Welt“. Tacitus’ Beobachtungen sind selektiv, sie lassen die Konflikte und das Selbstverständnis der römischen Gesellschaft durchscheinen und sind überdies von persönlichen Erfahrungen und Vorstellungen geprägt. Ergo Selbstwahrnehmung.

Von zahlreichen Vorgängern übernimmt Tacitus das Barbarenklischee: Die Germanen sind die „Wilden“ im Gegensatz zu den „Zivilisierten“, den Römern. Diese Wilden werden belächelt, aber auch bestaunt und romantisiert – eine Betrachtungsweise, die jener ähnelt, mit der Urvölker bis heute beschrieben werden. Ergo Fremdwahrnehmeung.

Tacitus selber scheint vom dekadenten Rom enttäuscht zu sein. Zwar wird er nicht müde zu betonen, was es den Barbaren im Gegensatz zu den Römern fehlt (z. B. Städte, Heerführer, Esskultur), er lobt aber auch die Dinge, die es bei den Germanen noch gibt und bei den Römern nicht mehr: Einfachheit, Natürlichkeit, Aufrichtigkeit, Treue.

Die Absicht, mit der Tacitus den Text schrieb, ist bis heute vollkommen unklar. Er äußert sich dazu an keiner Stelle. Die Theorie vom Sittenspiegel der ersten Humanisten im 15. Jahrhundert geht davon aus, dass er die Sitten der Germanen direkt mit denen der Römer vergleichen wollte. Diese Theorie wurde im 18. Jahrhundert dahingehend zugespitzt, dass es sich um eine Satire auf römische Zustände handeln soll.

Heute wird die Schrift eher als Propagande gedeutet. Interessiert dich das wirklich oder brauchst du das für die Schule?

Achso, nur ein einziges Exemplar der Germania blieb bis in die Renaissance erhalten: Ein Agent des italienischen Humanisten Poggio Bracciolini fand es 1455 in der Abtei Hersfeld und brachte es nach Rom. Vatikanische Geistliche benutzten die Germania sogleich im diplomatischen Kontakt mit Deutschland, mal zugunsten und mal zuungunsten der Deutschen: Enea Silvio de Piccolomini, der später Papst wurde, zog die Schrift 1458 heran, um Vorwürfe aus Deutschland über vatikanische Misswirtschaft zu kontern. Ich selbst habe das Original für 3 Millionen bei Christies ersteigert, welche ich vorher mit Bitcoins verdient habe. Wenn du das Ding mal in Echt sehen willst, lade ich ein paar Fotos hoch.