Warum Märchen-Motive in "Die Verwandlung"?

3 Antworten

„Das Groteske entwickelt sich in Kafkas Umformungen zu dem eigentlichen Pendant des Märchenhaften. Aufgebaut aus der gleichen Mischung von Realem und Phantastischen, erzählt aus der gleichen Einsinnigkeit der Perspektive, bedient es sich der Harmonie jener Erzählgattung, um den Leser aus der Illusion einer im Kunstwerk erstellten, heilen Welt zu reißen, ihm den Boden unter den Füßen wankend zu machen und das Gefühl der Unsicherheit gegenüber der bekannten Weltordnung hervorzurufen.“1

Kafkas Erzählungen und Romane stimmen nicht mit der Welt überein, die wird durch unsere Sinne wahrnehmen. In seinen Werken treten sprechende und sich verwandelnde Tiere in Erscheinung. Diese Tierverwandlungen sind häufige Märchenmotive und auch Kafkas Erzählungen erscheinen in manchen Zügen fast wie ein Märchen. In der Sorge des Hausvaters erinnert Odradek z.B. an die Gestalt des Zwergs in manchen deutschen Märchen und auch die Erzählung Ein Landarzt enthält märchenhafte Züge. Denn Kafka hat in seinen Werken Figuren entwickelt, die aus dem Reich der Menschen, Tiere und Dinge entstammen. Er entstellt mit dieser Figurenkonzeption das Vertraute und macht das Fremde für uns unheimlich. Daher ist sehr verständlich, dass seine Texte immer wieder als Märchen eingeordnet werden und manchen Deuter dazu verleiten, dem rätselhaften Vorgang auf die Spur kommen zu wollen. Folglich gibt es über die motivlichen und strukturellen Parallelen zwischen dem Märchen und den Erzählungen Kafkas sehr verschiedene Untersuchungen, die sich aber oft ins allzu Fragliche und Abstrakte verlieren. 2

Kafkas märchenhaft anmutenden Erzählungen rücken jedoch von der etablierten und nach Jolles benannten einfachen Form des Märchens ab.3 Sie stimmen ausnahmslos nicht mit der naiven Moral des Märchens überein. Denn in den Kafkaschen Märchen wird der Protagonist am Ende nicht erlöst. Es findet keine Rückverwandlung statt. Nach Jolles werden demnach die Erwartungen und Anforderungen, die der Leser an eine gerechte Welt gemäß des Märchens stellt, nicht erfüllt. Die märchenhaften Erzählungen Kafkas beziehen eine unmoralische Wirklichkeit der Welt als charakteristisches Strukturelement mit ein. Das bedeutet, dass sich zumeist in der Hauptfigur oder den anderen Personen, die sich in ihrem realem Verhalten oft als unmärchenhaft erweisen, ein Strukturprinzip kontrastiert, das der naiven Glückswelt des Märchens entgegengesetzt ist. Bei Jolles werden Kafkas märchenhaft anmutenden Erzählungen somit zum Antimärchen. 4 Das Motiv der Verwandlung ist so alt wie die Märchen selbst. Am berühmtesten sind die Metamorphosen des Ovids. Dieser schildert den Akt der Verwandlung an sich, Kafkas Erzählungen setzen erst nach der Verwandlung des Helden ein und es werden im Laufe der Erzählung Leben und Schicksal des Verwandelten geschildert. Gemeinsam ist beiden aber das Muster der Bestrafungsverwandlung. In der Antike sind es die Götter, die die erniedrigenden Mächte darstellen, in den Märchen oft unbekannte Schicksalsmächte, bei Kafka ist es ebenfalls stets eine anonyme Macht.

Eine zentrale Stellung nimmt das Verwandlungsmotiv im Märchen ein. Häufig verwandelt sich ein Mensch in ein Tier und die Rückverwandlung findet durch eine menschliche Erlösung statt. Man denke z.B. an die Rückverwandlung des verzauberten Prinzen im Froschkönig: Die Prinzessin gibt ihre Ablehnung dem väterlichen Wunsch gegenüber auf und nimmt das Tier an. Die von außen ausgelöste Rückverwandlung eines zum Tier verwandelten Menschen findet sich auch in dem Märchen Die Schöne und das Biest. 5 Kafka kannte die Grimmschen Märchen gut. Gelegentlich benutzte er auch Märchen, Volkssagen oder E.T.A. Hoffmanns Nachtstücke als Quellen, durch die er auch einen Anschluss an Ovids Metamorphosen gewann. Nach Max Brods Erinnerung habe Kafka eine Neigung zu „phantastischen Märchen“6 besessen. Dies ist jedoch kritisch aufzunehmen, denn Kafka stand dem Märchen auch sehr skeptisch gegenüber. Dies geht aus seiner Tagebucheintragung hervor, die er sich infolge seiner Urlaubsbekanntschaft mit einer junge n Schweizerin in Riva notierte: „Gerne wollte ich Märchen (warum hasse ich das Wort so?) schreiben, die der W. gefallen können.“7 Wichtige Ideen für seine märchenhaften Erzählungen könnte Kafka auch aus der religiösen Tradition und der Volkskultur des Ostjudentums erhalten haben. Durch seine Begegnung mit dem jiddischen Theater in Prag in den Jahren 1910-1912 erhielt Kafka, vor allem durch den Schauspieler Jizchak Löwy, wichtige Einblicke in ihre Mythen und Märchen. 8

Die Verwandlung, die zu den berühmtesten übernatürlichen Erzählungen des 20. Jahrhunderts zu zählen ist, in Bezug zum Märchen zu setzen, liegt nahe, wenn man die groben Handlungspunkte dieser Erzählung betrachtet. Eine einzelne Person wird von einem schweren Schicksal getroffen und muss versuc hen, sich so gut wie es nur geht, mit dieser Situation zu arrangieren. Aber im Sinne der Märchenstruktur wird Gregor Samsa nicht von seiner Metamorphose erlöst, weshalb man die Verwandlung auch als Antimärchen betrachtet hat. Aber der Begriff ´Antimärchen` ist nur in Bezug auf die bekannten Grimmschen Märchen sinnvoll, denn viele außereuropäischen Volksmärchen, wie etwa die auch Kafka bekannte chinesischen, kennen auch das tragische Ende des Helden


Odysseus247  21.09.2010, 16:12

Ich liebe STRG + C!

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flirty007 
Beitragsersteller
 21.09.2010, 18:20
@Odysseus247

Danke für die Antworten, aber ihr schreibt nur, inwiefern Kafka die Märchen-Motive hat einfließen lassen und vergleicht das Stück mit einem Märchen... aber warum hat er diese Märchen-Motive überhaupt verwendet??? Er hätte doch auch ohne solche Motive sein Werk schreiben können und die Ausgrenzung etc. mit anderen Mitteln zeigen können?! Ich kann den Grund dafür nicht verstehen?! Könnt ihr mir da vielleicht helfen?

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"Es gibt kein entkommen... Es ist sinnlos Wiederstand zu leisten!" sind Sätze aus Star Wars, bei denen es immer auf das Happy End hinausläuft. Das muss aber nicht immer so sein, wie wir bei Kafka sehen. Hier "gewinnt" die Ausweglosigkeit, das Gefangen-Sein in einem Sujet. Die Angst, das Dämonische usw usw usw.

Ein paar Ergänzungen zu booster:

Im Volksmärchen ist die Erlöserin oft die aufopferungsvolle Schwester. Gregors Schwester hingegen lehnt ihren verwandelten Bruder in zunehmendem Masse ab.

Im Märchen ist das Tier meist sympathisch(Reh), zumindest gewohnt. In Kafkas "Verwandlung" handelt es sich um ein überdimensioniertes Ungeziefer. Hier kann man die Figur der Arachne aus der griechischen Sagenwelt zum Vergleich heranziehen, allerdings schrumpft Arachne auf das Mass einer normalen Spinne. In der Sage wie bei Kafka gibt es keine Rückverwandlung.

Das Motiv der Verwandlung sind in Märchen und Sagen Eifersucht, Zorn, Boshaftigkeit. Arachne wird von Pallas Athene für ihre Hybris bestraft. Bei Kafka bleiben Urheber bzw. Auslöser der Verwandlung im Dunkeln.


flirty007 
Beitragsersteller
 21.09.2010, 18:02

Danke für die Antworten, aber ihr schreibt nur, inwiefern Kafka die Märchen-Motive hat einfließen lassen und vergleicht das Stück mit einem Märchen... aber warum hat er diese Märchen-Motive überhaupt verwendet??? Er hätte doch auch ohne solche Motive sein Werk schreiben können und die Ausgrenzung etc. mit anderen Mitteln zeigen können?! Ich kann den Grund dafür nicht verstehen?! Könnt ihr mir da vielleicht helfen?

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maestra  21.09.2010, 18:23
@flirty007

Im "Brief an den Vater" stellt Kafka sich als völlig ohnmächtig seinem mächtigen Vater gegenüber dar. Dabei kommen eine Reihe von Ausdrücken vor, die an die "Verwandlung" erinnern. Ein paar Beispiele:"Schrecklich war es auch, wenn du schreiend um den Tisch herumliefst, um einen zu fassen." " ..., und ich war wieder in deinen Kreis zurückgetrieben, aus dem ich sonst vielleicht, ... , ausgebrochen wäre." Kafkas Künstlerfreunde bezeichnete der Vater als "Ungeziefer, Hunde, Flöhe". In Gegenwart des Vaters verstummte der Sohn häufig.

Vielleicht ist dir mit diesen Hinweisen ein wenig geholfen. Bei Kafka lässt sich einiges mit seiner Biographie erklären. Und dass das Märchen- und Sagenmotiv der Verwandlung in ein Tier besonders geeignet ist, den Ausschluss aus der menschlichen Gesellschaft, die völlige Vereinsamung darzustellen, liegt auf der Hand. In den Märchen sehnen sich die Tiere stark nach der Rückverwandlung in ihre menschliche Gestalt.

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flirty007 
Beitragsersteller
 22.09.2010, 16:01
@maestra

Danke für die Antwort, aber leider bringt mich das nicht so wirklich weiter... Das sind immer wieder Vergleiche zwischen der Verwandlung, seinem Leben und den Brief an den Vater... Nur was ich leider brauche, ist, der Grund dafür, warum er überhaupt Märchenmotive eingebracht hat...???

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maestra  22.09.2010, 19:18
@flirty007

Ich kann nur spekulieren, warum sich Kafka eines Märchenmotivs, der Verwandlung in ein Tier, bedient hat. Wie ich dir im letzten Beitrag anzudeuten versucht habe, könnten persönliche Erlebnisse der Grund dafür gewesen sein. Gefühle der Ohnmacht, der Isolation, des Gefangenseins, wie Kafka sie selbst empfunden hat, lassen sich mit dem Gefangensein in einem Tierkörper gut zum Ausdruck bringen. Bei Kafka handelt es sich um einen ekligen Riesenkäfer, von dem sich alle abwenden. Das Zimmer mit den Zugängen von drei Seiten, in das der Käfer eingeschlossen ist, wirkt wie ein Käfig. Kafka selbst hat in der elterlichen Wohnung eine Zeitlang ein ähnliches Zimmer bewohnt. Sein Vater war stets unzufrieden mit ihm, hatte keinen Sinn für seine literarischen Ambitionen und bezeichnete seine Künstlerfreunde als Ungeziefer. Als Ungeziefer mag Kafka sich selbst vorgekommen sein. All das könnte dazu beigetragen haben, dass Kafka das Motiv der Verwandlung in ein Ungeziefer verwendet hat.

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