Warum ist der W168 Benz beim Elchtest umgefallen?

9 Antworten

Von einem Experten bestätigt

Es muss nicht immer am Auto liegen. Als bei Top Gear reihenweise der Reliant Robin (das knuffige Dreiradauto von der Isle of Man - Hüte dich vor Sturm und Wind und Autos, die aus England sind) umgekippt ist, lag das nicht am Auto, sondern dass bewusst zur Steigerung des Unterhaltungsfaktors manipuliert wurde. Der Robin hebt zwar bauartbedingt gerne mal ein Hinterbein, aber kippen ist sehr unwahrscheinlich.

Bei der A-Klasse und dem legendären Elchtest (den die Schweden gar nicht so nennen) war es aber tatsächlich konstruktionsbedingt. Ein konstruktionsbedingt hoher Schwerpunkt mit einem komfortablen Fahrwerk (Reifen, Federn, Dämpfer), das sich aufschaukelt und irgendwann ist es einfach "too much". Die Lösung: Manta-Tuning. Tieferlegung, härtere Dämpfer, größere Felgen mit folglich kleineren Reifenflanken. Zusätzlich noch ein ESP, das allzu kühne Fahrmanöver etwas glattbügelt. Der Komfort hat aber merklich darunter gelitten.

In der gleichen Ära hatte Mercedes noch einen zweiten kleinen "Kipplaster", den Smart der ersten Generation. Gleiches Problem, gleiche Lösung. Manta-Tuning plus ESP. Was beim Smart dazu kam war, dass er einen echten Heckantrieb (also keinen oft fälschlicherweise Heckantrieb genannten Hinterradantrieb mit vorne liegendem Motor/Getriebe, Kardanwelle und Hinterachsdifferential, sondern einen hinten eingebauten Motor), dass das Hauptgewicht des Fahrzeugs ziemilch dicht über der direkt am Heck verbauten Hinterachse saß. Mag zwar gut für die Traktion sein, wenn aber davor nix schweres mehr kommt (und selbst der Fahrer klebte ja schon fast an der Heckscheibe, also noch mehr Gewicht hinten), hebelt das die Fahrzeugfront gerne mal hoch, gerade wenn plötzlich viel Kraft anliegt (Anfahren auf Eis oder anderem glatten Untergrund, dann plötzlich Grip bei hoch drehendem Motor). Der erste Smart neigte in solchen Extremsituationen zu Wheelies und zumindest ein Fall ging durch die Presse, dass sich einer schon so weit aufgestellt, dass er auf der Heckklappe zum Liegen kam ("Smart macht Männchen" war damals die Schlagzeile).

Der schon in einer anderen Antwort erwähnte TT hatte unter seiner Form zu leiden. Der "Panzerspähwagen" hat ja fast das Profil eines Flugzeugflügels und funktionierte auch relativ ähnlich, weshalb zu viel Auftrieb statt (im Idealfall, bei aerodynamisch durchdachten sportlicheren Fahrzeugen) Abtrieb oder (bei den meisten Autos) ein Gleichgewicht oder zumindest nur vernachlässigbarer Auftrieb entstand. Beim TT Quattro war der Auftrieb näher an vernachlässigbar, weil durch Kardanwelle und Hinterachsdifferential eine weitere Gewichtskraft hinzu kam, die das Kräfteverhältnis ausgeglichen hat. Hier wird, genauso wie bei der A-Klasse, oft über das ESP als Lösung zitiert, aber es gab ja auch eine weitere Lösung, nämlich der potthässliche Heckspoiler, der Auftrieb durch Abtrieb ersetzt hat. Das ESP hat auch hier das Paket nur abgerundet.

ESP sehen viele Experten auch kritisch, es kann zwar Eingriffe durchführen, die ein Fahrer gar nicht durchführen kann (einzelne Räder abbremsen) oder greift da ein, wo ein Fahrer überfordert ist, aber das kann ein falsches Sicherheitsgefühl sein. Der Grenzbereich, also der Bereich, der ohne Eingriff des Fahrers kritisch wäre, verschiebt sich zwar in seinem Anfang (von unkritisch bis Grenzbereich) deutlich weiter nach hinten, weil das ESP schon etwas rumregelt, aber da ein ESP nicht die Physik austricksen kann, in seinem Ende (von Grenzbereich zu kritisch) nur wenig weiter nach hinten. Der Grenzbereich wird also schmaler. Und ein ESP kann halt nicht den Schwerpunkt runtersetzen oder die Aerodynamik beeinflussen, für diese konstruktiven Mängel brauchte es bei der A-Klasse und dem Smart das Manta-Tuning und beim TT den Entenarsch-Spoiler. Das ESP hat die Hauptmaßnahmen in allen Fällen nur ergänzt.


checkpointarea  19.11.2021, 09:18

Top Antwort! Ausführlich, kompetent, verständlich. Mir schleierhaft, weshalb Du keinen Expertentitel hast.

Warum ist der W168 Benz beim Elchtest umgefallen?

Mit dem W168 beschritt MB völlig neue Wege: Es war das erste Modell dieser Firma mit Frontantrieb. Dabei sollte es so komfortabel sein, wie es damals bei Mercedes halt üblich war, die Außenlänge sollte sehr kompakt sein (der W168 ist ungefähr so lang wie ein Kleinstwagen), jedoch sollte er vom inneren Platzangebot und der Einteilung zwei Klassen höher, in der Kompaktklasse (VW Golf, Ford Focus, Opel Astra usw.) positioniert werden. Dies führte zu einem variablen Innenraum, einem anfangs sehr weichen Fahrwerk, und einer hoch aufragenden Bauart. Außerdem war er ursprünglich als reines Elektroauto geplant. Zu diesem Zweck hat man ihm einen doppelwandigen Unterboden verpasst, dort sollten eigentlich die Akkus verbaut werden. Es kam anders, und er wurde ein reiner Verbrenner, den Raum hat man genutzt, um dem eigentümlich liegend verbauten (wartungstechnisch übrigens ein Mechanikeralbtraum!) Motor Raum zum Ausweichen zu geben, damit er im Falle eines Unfalles trotz der sehr kurzen Knautschzone nicht in den Innenraum dringt, und dort Unheil anrichtet.

Tja, weiches Fahrwerk, hoher Schwerpunkt = Kippgefahr bei flotter Kurvenfahrt. Einfachste Physik. Entschärft hat man das Problem meiner Erinnerung nach durch eine Tieferlegung, ein härter abgestimmtes Fahrwerk (das sich kaum noch nach Mercedes anfühlte), Reifen mit anderer Abstimmung, und vor allem durch den serienmäßigen Verbau von ESP (Stabilitätsprogramm). Möglicherweise (eigene Vermutung) hat das fehlende Gewicht der Akkus in den Hohlräumen zur Kippgefahr beigetragen.

Woher ich das weiß:Recherche

volker79  18.11.2021, 09:38

Das fehlende Gewicht des Akkus war aber nicht bei der A-Klasse, die wurde einfach nur blind falsch konstruiert, sondern beim Smart, der eigentlich mal von Anfang an ein Elektroauto werden sollte. Und als dann doch die Rasenmähermotoren eingebaut wurden, war da, wo mal Batterien sein sollten, ein klaffendes Nichts, nämlich im Unterboden.

Natürlich lag es am Auto! Wenn alle anderen bei dem Test unter vergleichbaren Bedingungen nicht umfallen und einer schon, liegt's wohl am Auto...

Das Ding war eben eine Fehlkonstruktion. Und der Test ist ja genau dafür da, um solche Stabilitätsprobleme aufzudecken.

Nein, es lag an einer unsinnigen Entscheidung bei Mercedes.

Die damalige A-Klasse wurde mit einem sogenannten "Sandwich" Boden ausgestattet, der eigentlich eine Batterie bzw. einen Wasserstoffantrieb (danke an Peppie85 für die ergänzung) beherbergen sollte. Die A-Klasse wurde nämlich ursprünglich als EV (Elektrisches-Auto) geplant. Durch den sandwichboden ("doppelter Boden") rückt der Schwerpunkt erstmal nach oben, was aber durch die schwere Batterie im boden wieder ausgeglichen wird.

Nun liegen zwischen Entwicklung und Serie meist ein etwas längerer Zeitraum und irgendwo dazwischen wurde der Elektroantrieb komplett 'eingestampft'. Am Auto wurde aber nichts geändert (zu teuer). Die A Klasse wurde nur als verbrenner gebaut. Da nun aber die Batterie im Boden fehlte, kam es aufgrund des höheren Schwerpunkts zum scheitern im Elchtest.

Das Auto war gut konzipiert, aber nicht als das eingesetzt wofür es eigentlich entworfen wurde.

Woher ich das weiß:Recherche

Peppie85  18.11.2021, 08:18

eine sehr schöne erklärung, bis auf einen kleinen punkt, den ich gerne verbessern, genauer gesagt ergänzen möchte.

im sandwichboden sollte ursprünglich nicht nur eine batterie, sondern auch ein wassertoffank und eine brennstoffzelle untergebracht werden. stichwört "necar" (no emisson car)

das ändert natürlich nichts daran, dass das fahrzeug elektrisch angetrieben werden sollte.

lg, anna

Ja. Lag am Auto. Zu hoch, zu schmal.

Und natürlich noch kein ESP, das ein umfallen verhindert hätte. Dieser Test war der Grund, warum ESP irgendwann Standard wurde.

Woher ich das weiß:Recherche

DerBayer80  18.11.2021, 07:10

Die A-Klasse war aber bei weitem nicht der einzige Grund für das Einführen von ESP Punkt auch der Audi TT aus der ersten Generation war maßgeblich daran beteiligt. Hier gab es bei dem Front antriebsmodell massiven Probleme damit dass das Heck Auftrieb anstatt abtrieb entwickelt hat und d dadurch ganz gerne mal in die Botanik abgeflogen ist. Audi hat hier die Fahrzeuge in einer riesengroßen Aktion zurück ins Werk mit ESP und einem kleinen Heckspoiler nachgerüstet um das Problem aus der Welt zu schaffen. Die quattro waren hiervon weniger betroffen da die hinterachse deutlich schwerer ist