Warum ist der Kategorische Imperativ ein synthetisch-praktischer Satz (Urteil) a priori?

2 Antworten

Eine Klärung kann geschehen, indem zuerst die Bedeutung der verwendeten Begriffe erläutert wird und dann dargelegt wird, warum der Kategorische Imperativ diese Art von Satz (Urteil) ist.

1) Bedeutung der Begriffe »synthetisch», »praktisch«, und »a priori«

Urteile sind bei Kant Verbindungen/Verknüpfungen von Begriffen, sprachlich (Sätze) Verbindungen von Subjekt und Prädikat, die Gültigkeit beanspruchen.

Das Begriffspaar a priori - a posteriori bezieht sich auf eine Unterscheidung der Erkenntnis nach ihrem Ursprung/ihrer Quelle im Erkennen des Verstandes/der Vernunft oder der Erfahrung.

a priori (lateinisch wörtlich: „vom Früheren her"): vor aller Erfahrung, weil die Begründung des Urteils von aller Erfahrung (Eindrücken der Sinne) unabhängig ist, ihr vorausgeht

a posteriori (lateinisch wörtlich: „vom Späteren her"): nach der Erfahrung, auf ihrer Grundlage

Urteile a priori zeichnen sich durch folgende Merkmale aus:

1) strenge Notwendigkeit: Etwas kann nicht anderes sein als es ist.

2) uneingeschränkte Allgemeingültigkeit: Die Urteile gelten immer und überall, ohne Ausnahme.

Die Notwendigkeit kann nicht der Erfahrung entnommen werden.

Das Begriffspaar analytisch - synthetisch bezieht sich auf die Frage, woran sich die Wahrheit eines Urteils entscheidet.

Analytische Urteile sind solche, bei denen das Prädikat schon im Begriff des Subjekts steckt/enthalten ist und durch bloße Zergliederung (Analyse) aus ihm gewonnen werden kann (Erläuterungsurteile).

Beispiele:

Alle Körper sind ausgedehnt.

Jede Wirkung hat eine Ursache.

Die Wahrheit der Sätze gilt – unter Verwendung der sprachlichen Bedeutungsregeln – allein mit Hilfe logischer Gesetze.

Synthetische Urteile sind solche, bei denen das Prädikat dem Begriff des Subjekts etwas hinzufügt und damit Wissen erweitert (Erweiterungsurteile).

Beispiele:

Einige Körper sind schwer.

Die Sonne erwärmt den Stein.

Kants Argument ist jeweils, daß die Wahrheit dieser Sätze nicht über eine Zergliederung der in ihnen enthaltenen Begriffe, sondern nur über ein Zusammenspiel von Begriff und Anschauung einleuchtet.

Nach Kant gibt es synthetische Urteile a priori:

a) des Verstandes: Grundsätze des reinen Verstandes als Bedingungen möglicher Erfahrung, auch für die Urteile reiner Mathematik und reiner Naturwissenschaft

b) der Vernunft: Ideen, freilich als regulative Prinzipien, ohne objektive Gültigkeit hinsichtlich einer tatsächlichen Existenz entsprechender Dinge

Reine Vernunftbegriffe setzen an den auf Erscheinungen bezogenen Verstandesbegriffen an und erweitern sie hin zum Unbedingten und in einer Einheit Umfassenden. Dies geschieht unter der Voraussetzung der Existenz entsprechender Objekte, ohne daß diese aber in den Sinnen als Erfahrung gegeben sind. Beim Ablauf dieses Denkens sind regulative Ideen der Vernunft als Voraussetzungen nötig (z. B. die Welt als Natur, die eine Einheit bildet, um sich eine mit sich selbst identische und sich selbst tragende Außenwelt vorzustellen). Das reale Dasein eines der Idee entsprechenden Gegenstandes folgt daraus allerdings nicht. Ein Versuch, das Absolute und Unbedingte erkennen zu wollen, begibt sich in den Bereich unsicherer Spekulation

2) der kategorische Imperativ als synthetisch-praktischer Satz a priori

Imperative drücken die praktische Erkenntnis als Nötigung des Willens aus. Es gilt ein Sollen. Der Wille wird mit einer gesollten Handlung verknüpft. Der kategorische Imperativ enthält eine absolute/unbedingte Nötigung/Notwendigkeit. Diese kann nicht durch Erfahrung in der Wirklichkeit vorgefunden werden. Neigungen und Interessen können den Willen von Menschen bestimmen. Die Wirklichkeit des kategorischen Imperativs ist nicht in der Erfahrung gegeben, sondern er soll als Prinzip der Moralität festgesetzt werden, damit ein an ihm orientiertes Verhalten wirklich wird. Also ist der kategorische Imperativ in einem analogischen Sinn (es wird nicht ein Prädikat mit dem Subjekt verknüpft, der Akt der Synthesis [die Verknüpfung] ist nicht im kategorischen Imperativ enthalten, sondern geschieht mit ihm, indem er mit dem Willen eines sinnlich-vernünftigen Wesens verknüpft wird und die Verknüpfung zwischen dem in ihm enthaltenen moralischen Gesetz und einem solchen Willen fordert) ein synthetischer Satz a priori.

Bei einem reinen Vernunftwesen ist ein Satz, es handle richtig/moralisch gut, analytisch, weil im Begriff eines reinen Vernunftwesens steckt, im richtig/moralisch gut/im Einklang mit dem Sittengesetz zu handeln. Der Mensch ist aber nicht nur Vernunftwesen, sondern auch Naturwesen (ein Sinnenwesen). Er kann in seinem Wollen und seinen Handlungen auch vom Sittengesetz abweichen. Daher tritt ihm der kategorische Imperativ als Gebot entgegen.

Ein praktischer Satz ist der kategorische Imperativ, weil er auf Handlungen bezogen ist und der praktischen Vernunft entspringt.


Albrecht  26.07.2015, 10:36

Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785. 2. Auflage 1786). Zweiter Abschnitt. Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 420/BA 50:  

„Zweitens ist bei diesem kategorischen Imperativ oder Gesetze der Sittlichkeit der Grund der Schwierigkeit (die Möglichkeit desselben einzusehen) auch sehr groß. Er ist ein synthetisch-praktischer Satz a priori, und da die Möglichkeit der Sätze dieser Art einzusehen so viel Schwierigkeit im theoretischen Erkenntnisse hat, so läßt sich leicht abnehmen, daß sie im praktischen nicht weniger haben werde.“

Fußnote: „Ich verknüpfe mit dem Willen, ohne vorausgesetzte Bedingung aus irgend einer Neigung, die Tat, a priori, mithin nothwendig (obgleich nur objectiv, d.i. unter der Idee einer Vernunft, die über alle subjektive Bewegursachen völlige Gewalt hätte). Dieses ist also ein praktischer Satz, der das Wollen einer Handlung nicht aus einem anderen schon vorausgesetzten analytisch ableitet (denn wir haben keinen so vollkommenen Willen), sondern mit dem Begriffe des Willens als eines vernünftigen Wesens unmittelbar, als etwas, das in ihm nicht enthalten ist, verknüpft.“

Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785. 2. Auflage 1786). Zweiter Abschnitt. Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 440/BA 87:  

„Autonomie des Willens ist die Beschaffenheit des Willens, dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens) ein Gesetz ist. Das Princip der Autonomie ist also: nicht anders zu wählen, als so, daß die Maximen seiner Wahl in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit begriffen sein. Daß diese praktische Regel ein Imperativ sei, d.i. der Wille jedes vernünftigen Wesens an sie als Bedingung nothwendig gebunden sei, kann durch bloße Zergliederung der in ihm vorkommenden Begriffe nicht bewiesen werden, weil es ein synthetischer Satz ist; man müßte über die Erkenntniß der Objecte und zu einer Kritik des Subjects, d.i. der reinen praktischen Vernunft, hinausgehen, denn völlig a priori muß dieser synthetische Satz, der apodiktisch gebietet, erkannt werden können, dieses Geschäft aber gehört nicht in gegenwärtigen Abschnitt. Allein, daß gedachtes Princip der Autonomie das alleinige Princip der Moral sei, läßt sich durch bloße Zergliederung der Begriffe der Sittlichkeit gar wohl darthun. Denn dadurch findet sich, daß ihr Princip ein kategorischer Imperativ sein müsse, dieser aber nichts mehr oder weniger als gerade diese Autonomie gebiete."

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Albrecht  26.07.2015, 10:34

Philipp Richter, Kants ›Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‹ : ein systematischer Kommentar. Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2013 (Werkinterpretationen), S. 77:  

„Absolute Notwendigkeit, die den kategorischen Imperativ auszeichnet, lässt sich schlichtweg nicht beobachten; denn Erfahrung verfährt nur induktiv verallgemeinernd und kann die Möglichkeit des Andersseins des bisher Erkannten nicht ausschließen. Die Begründung eines kategorischen Imperativs kann also nicht mit dem in der Erfahrung vorfindlichen Willen von etwas bzw. im Sinne einer Erfolgsbedingung der Zweckrealsierung gelingen.“

S. 78: „Der reine Wille wird mit der durchzuführenden Tat a priori verknüpft. Das bedeutet, dass der praktische Schluss die oberste Prämisse bereits notwendig enthält. […]. Dem Schluss geht logisch kein durch Neigung begründeter Satz voraus, der dann bei Strafe des verfehlten Zwecks nötigen würde. Vielmehr verknüpft dieser Obersatz das Wollen einer Handlung mit dem Begriff des Willens eines vernünftigen Wesens unmittelbar und zwar so, dass es sich um eine unhintergehbare Nötigung handelt, die allerdings nicht schon per se das Wollen im pragmatischen Verstande bestimmt.“

S. 79: „Ein unbedingter Wert bzw. eine kategorische Nötigung kann daher nur a priori aus der formalen Struktur des Wertungsvermögens des Subjekts folgen.“

Dieter Schönecker/Allen W. Wood, Immanuel Kant, „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ : ein einführender Kommentar. 4., durchgesehene und bibliographisch aktualisierte Auflage. Paderborn ; München ; Wien ; Zürich : Schöningh, 2011 (UTB ; 2276 : Philosophie), S. 110 – 111:

„Was immer ein rein vernünftiges Wesen will – sein Wollen wird niemals im Widerspruch zum moralischen Gesetz stehen. Deswegen ist das moralische Gesetz für solche Wesen kein Imperativ, keine Pflicht, sondern ein analytisch-deskriptiver Satz. Anders bei sinnlich-vernünftigen Wesen. Für sie ist das moralische Gesetz ein KI und damit auch, so Kant, ein synthetischer Satz a priori. Ein Imperativ ist das moralische Gesetz, weil es ein objektives Gesetz ist, das für seine Adressaten eine Nötigung beinhaltet. Kategorisch ist dieser Imperativ, weil er eine Handlung als absolut notwendig gebietet, ohne daß dabei ein subjektives Interesse an der Handlung vorausgesetzt wird; a priori ist der KI aufgrund seiner Kategorizität und Notwendigkeit. Synthetisch ist der Imperativ, weil er das, was nicht ‚analytisch‘ im jeweils anderen enthalten ist, allererst ‚verknüpft‘ (429, 35 u.H.), nämlich den Willen eines unvollkommenen Wesens mit dem moralischen Gesetz. Der synthetisch-praktische Charakter des KI besteht also einfach darin, daß sinnlich-vernünftige Wesen, die nicht immer das Gute wollen, es wollen sollen, und zwar ohne daß dabei irgendeine Neigung oder ein Interesse vorausgesetzt werden darf. In diesem Sinn wird also durch den KI der Wille eines sinnlich-vernünftigen Wesens mit dem Sittengesetz ‚verknüpft‘. Es gehört zum Begriff eines rein vernünftigen Wesens, daß seine Neigungen und Begierden, sofern es überhaupt welche hat, nicht handlungsbestimmend sind; allein die Vorstellung des moralischen Gesetzes ist für das Handeln eines solchen Wesens relevant. Für ein solches Wesen ist das moralische Gesetz kein synthetischer, sondern ein analytischer Satz a priori.“

KI = kategorischer Imperativ  

u. H. = unsere Hervorhebung

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Weil er ein Sollen, eine praktische Notwendigkeit ausspricht. Und am Ende geht es doch darum, dass der Mensch nie bloß als Mittel sondern auch als Zweck zu behandeln ist.