Untschied Antigone Sophokles und Anouilh

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Gemeinsamkeiten

Die Neugestaltung des Antigone-Stoffes durch Jean Anouilh übernimmt viel von den Grundzügen der äußeren Handlung und auch einige Konfliktmotive.

Eteokles (Étéocle) und Polyneikes (Polynice) haben sich gegenseitig getötet und Kreon, der neue Herrscher Thebens, hat verboten, Polyneikes zu bestatten, weil dieser ein Verräter gewesen sei. Antigone widersetzt sich dem Bestattungsverbot des neuen Herrschers, ihres Onkels, um ihrem Bruder Polyneikes den Weg in den Hades zu ermöglichen. Beim zweiten Versuch wird Antigone bemerkt und ergriffen. Antigone bekennt sich zu ihrer Tat. Kreon verurteilt sie zum Tod, Antigone wird in eine Grabkammer eingeschlossen. Ihr Verlobter Haimon (Hémon) geht am Ende auf Distanz zu seinem Vater Kreon und nimmt sich an ihrer Seite das Leben. Als seine Mutter Eurydike (Eurydice) von seinem Ende erfährt, begeht sie Selbstmord.

Schauplatz ist der Königspalast. Ereignisse anderer Schauplätze (Feld mit dem Leichnam, Felsenkammer) werden durch Botenberichte mitgeteilt.

Die Szenenfolge der antiken Vorlage wird in wesentlichen Zügen beibehalten, wobei das modernen Drama nicht einen so streng festgefügten Aufbau wie die griechische Tragödie hat, sondern eine lockere Szenenfolge nach Art eines Konversationsstückes zeigt.

Antigone erscheint dickköpfig/stur. Sie betont die Bedeutung der Familienbande, Kreon die der Staatsordnung.

Unterschiede

Einsatzpunkt der Handlung/Exposition: Bei Anouilh liegt der Einsatzpunkt der Handlung anders, ein wenig später (die Vorgeschichte erzählt ein Sprecher im Prolog), mit der Einführung Antigones als einer eigensinnigen, widerspenstigen und erzieherisch problematischen Jugendlichen (zum Zwecke dieser Exposition ist die Figur der Amme erfunden).

Hinzufügung einer Szene: Es gibt eine Begegnung der Verlobten Antigone und Haimon. Fehlen einer Figur: Anouilh hat die Rolle des blinden Sehers Teiresias gestrichen, womit ein Repräsentant des Religiösen fehlt, der der Willen der Götter versteht, und ein wesentlicher Bestandteil des Handlungsumschwungs bei Sophokles.

Rolle des Chors: Bei Anouilh steht ein Sprecher (Le Prologue; Le chœur) chœur) außerhalb der gespielten Welt und entspricht einem allwissenden Erzähler. Er bildet ein episches, nicht lyrisches (wie der antike Chor) Element. Doch tritt er auch in die Handlung ein und wird zur mitspielenden Person, als er sich im Schlußteil um Antigones Rettung bemüht.

Art der Todesproblematik: Die Todeszugewandtheit Antigones hat unterschiedliche Gründe. Bei Sophokles wendet sich Antigone dem Tod zu, weil ihre Verwandten tot sind, bei Anouilh, weil es nichts gibt, was sie bejahen könnte. Sie nennt keien ihr Pflichten auferlegende Instanz. Antigone verachtet alle menschliche geschichtliche Tätigkeit, weil sie nur in Kompromissen möglich ist, nicht das Unbedingte.

andere Darstellung Kreons: Kreon ist nicht so sehr ein Vertreter von Unmaß und Überheblichkeit (Hybris), sondern ein Vertreter von Kompromissen, der Antigone retten möchte. Bei Sophokles scheitert Kreon, weil er zu spät erkennt, den Bogen überspannt zu haben. Bei Anouilh scheitert Kreon, weil er – in die Widersprüchlichkeit von Macht und Recht verstrickt - mit seiner Kompromißlosigkeit, die ihm Antigone durch ihre Verweigerung von Kompromissen schließlich aufnötigt, weil er damit Glaubwürdigkeit verliert. Er wollte mit dem Bestattungsverbot erproben, ob die von ihm verkörperte staatliche Autorität noch funktioniert. Die erzieherischen Maßnahmen sollen der Erneuerung des Staates dienen, geplant zur Wiederherstellung der Ordnung nach tödlichem Streit in der Herrscherfamile. Kreon ist als Realpolitiker dargestellt, der dazu gebracht wird, seinen Zynismus und seine Schwäche zunehmend ofenzulegen.

andere Thematik: Bei Anouilh geht es nicht um objektive Werte, sondern um Existenzgefühl in einer fraglich gewordenen Welt und unterschiedliche Haltungen zum Sinn des Lebens. Beide gehen von der Voraussetzung einer absurden Welt aus, ohne verbürgte Weltordnung. Kreon will durch seine Politik die Welt ein wenig vernünftiger gestalten und den Menschen ein kleines Glück inmitten der Absurdität verschaffen. Antigone hält im Gegensatz dazu an einem Ideal sinnvollen Dasein fest und lehnt ein ihr angebotenes kleines Glück ab, zu dessen Erlangung sie Schlimmes tun müßte. Sie vertritt ein Verneinen gegenüber einer Welt und einem Verhalten, in dem sie sie ihrer Auffassung nach Reinheit und Unschuld verlieren würde.

eine hilfreiche Darstellung, die herangezogen ist:

Eberhard Hermes, Interpretationshilfen - der Antigone-Stoff : Sophokles, Anouilh, Brecht, Hochhuth. 6. Auflage. Stuttgart ; Düsseldorf ; Leipzig : Klett, 2001 (Interpretationshilfen), S. 79 – 112 (II. Die ‚Antigone’ von Jean Anouilh; besonders 8. Vergleich mit der ‚Antigone‘ von Sophokles S. 107 - 112)


Albrecht  04.11.2011, 03:34

Aussagen zur inneren Handlung hängen auch in gewissem Ausmaß von der Deutung des Stückes ab.

George Steiner, Die Antigonen : Geschichte und Gegenwart eines Mythos. Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer. München : Hanser, 1988, meint S. 196 – 197 Haimon sei bei Anouilh ein Durchschnittsmensch, in schrecklicher Angst vor Einsamkeit und vor völligem Erwachsenwerden, verhalte sich wie ein kleiner Junge.

S. 213: Bei Sophokles liegen Kommentar der Handlung, entscheidende Dialoge mit Antigone, Vorahnungen und Verkünden des Endgültigen Chor der Ältesten, bei Anouilh verteilt auf „Le Prologue (kann als Chorführer angesehen werden), Wächter und den Chor selbst, der den Charakter eines kalten, leicht salbungsvollen Zeugen hat.

S. 238 – 240: Kreon gewinne am Ende des Stückes, indem er eröffnet, es gebe keine Möglichkeit, zwischen den sterblichen Überresten von Étéocle und Polynice zu unterscheiden, da beide unter den Hufen der anstürmenden argivischen Reiterei zu ekelerregendem Schlamm zertrampelt worden sind. Antigones zweites Aufbegehren komme aus einem Ekel vor Créons onkelhaftem, herablassendem Bestehen auf Glücklichsein, weltlicher Routine, die im Eheleben erwartet wird.

Bei Sophokles bleibe Kreon in grauenhafter Einsamkeit zurück, nur familiäre Verheerung umgibt ihn. Bei Anouilh gehe Créon auf Schulter eines jungen Knaben gestützt ab, die zur Strafe verhängte Isolierung sei durchbrochen, der Kontakt zur Kindheit deute auf einen umfassenden Wiedereintritt ins Leben.

Nachschlagewerke zu Antike und zur Literatur sind zu dem Verhältnis nützlich, z. B.:

Anneliese Botond, Jean Anouilh, Antigone. In: Kindlers Literatur-Lexikon. Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2009. S. 445 – 446:
„Anders als in der Tragödie des ↗ Sophokles sehen sich allerdings nicht mehr eine gottgegebene sittliche Ordnung und menschliches Gesetz im Widerstreit, da in Anouilhs götterloser Welt die Protagonisten das Gesetz ihres Handelns aus ihrer persönlichen Haltung zum Leben beziehen; Kreon aus der Bejahung, Antigone aus der Verneinung des Lebens bis in die letzte Konsequenz. Leben bedeutet für Kreon nicht mehr als eine bloß menschliche Vereinbarung, die der notwendigen Ordnung, der Verringerung der Absurdität, dem »kleinen Glück« zu dienen hat. Aber mit seiner letzten Weisheit, dass das Leben »vielleicht trotz allem nur das Glück« sei, liefert Kreon Antigone das entscheidender Argument für ihre Absage an dieses Leben. Im dem großartigen Dialog, der den Mittelteil der Tragödie einnimmt, treffen diese unversöhnlichen Haltungen aufeinander. Erstmals bei Anouilh steht der Heldin ein ebenbürtiger Antagonist entgegen. Wenn Antigone vor Kreon den Tod für ihre tat verlangt, so erhebt sie damit zugleich Anspruch auf die Anerkennung ihrer Freiheit. Das Leben zu verneinen. Wenn Kreon ihren Tod zu vermeiden sucht, so geschieht dies nicht, weil Antigone seine Nichte und ei Verlobte seines Sohnes Hämon ist, sondern weil ihre Unbeugsamkeit die Gesetzmäßigkeit der durch ihn repräsentierten menschlichen Ordnung in Frage stellt. Antigone lehnt den Kompromiss ab, der zur Lüge verpflichtet, vor allem aber das »kleine Glück«, das der Kompromiss bedeutet: »Ihr ekelt mich an mit eurem Glück; mit eurem leben, das man lieben soll im jeden Preis, wie Hunde seid ihr, die alles, was sie finden, belecken, Und dieses kleine alltagsglück, wenn man nicht zu anspruchsvoll ist. Ich will alles, sofort – und ganz oder ich lehne ab.«

Weil das Stück, wenn auch irrtümlicherweise, als ein Sieg der Staatsräson über die Freiheit ausgelegt werden konnte, durfte es auch noch während des kriegest aufgeführt werden, obwohl es wie andere zeitgenössische Bühnenstücke und Filme auch als Werk des Widerstandes gegen die deutsche Okkupation zu lesen war. Im Gegensatz zu Orest in ↗ Sartres Stück Les Mouches, 1943 (Die Fliegen, 1948 G. Baerloch), dessen Freiheit zum Leben befreit, beansprucht Antigone ihre Freiheit als Freiheit zum Tode. Antigones Entscheidung ist der einzige Ausweg aus der absurden Welt, er ihre Tat als Vorwand dient, eine bestehende Ordnung nicht anzweifeln zu müssen.

Diese Ambivalenz, die sich der eindeutigen Lesart verweigert, äußert sich auch in der theatralischen Form. Zahlreiche zeitgenössische Anspielungen und Bühnenanweisungen ziehen das Stück in bewusste Distanz zum antiken Mythos: Strickend, plaudernd und Karten spielend sitzen die Personen des Stückes auf der Bühne, während der Prologsprecher sie den Zuschauern vorstellt. Sie sprechen die Alltagssprache des 20. Jh.s und tragen moderne Kleider. Begriffe wie »Zigaretten, Autos, Bar« tauchen auf, und Kreon philosophiert in Hemdsärmeln über das Leben. Das Ganze folgt formal der antiken Tragödie, ändert die Einheit der Zeit und des Ortes nicht. Doch entfällt die Einteilung in Akte; Handlungsprozesse werden durch einen Sprecher mitgeteilt, dem Anouilh die Rolle des Chores überträgt.“

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Albrecht  04.11.2011, 03:36

Jan Söffner, Antigone. In: Maria Moog-Grünewald (Hrsg.), Mythenrezeption : die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart. DNP : Der Neue Pauly. Supplement-Band 5. Stuttgart ; Weimar : Metzer, 2008, S. 81 – 96

S. 90 – 91. „Ein bewusst zeitgenössisches Habitat unterlegt J. Anouilh seinem Drama Antigone (1942): Die Grundstruktur des sophokleischen Konflikts wird freigelegt, indem dieser gleichsam seine metaphysisch-religiöse Unterfütterung verliert. In einer säkularisierten Welt treffen Créon und A. aufeinander. Ersterer trägt Züge eines häuslichen Onkels, und damit ist auch die sophokleische Rollenverteilung verkehrt: Er spricht im Interesse der Polis und dies Oíkos; A. indes verkörpert nunmehr allein sich selbst. Der Bestattung ihres Bruders fehlt damit jegliche Legitimation; und an die Stelle der absoluten Hingabe an das transzendente Recht tritt in ihrer Haltung die Absolutheit der Negativität: Trotzig erhebt A. Anspruch auf Verurteilung. Sie steht damit zwar, und Créon bescheinigt ihr dies, auf der Seites des Sinns (sens), welcher den lebensweltlich Immanenten und damit auch der Position Créons selbst abgeht. Doch hat dieser Sinn ebensowenig Begründung wie der Verzicht auf ihn. Créon hält ihr entgegen, es sei einfach, »Nein« zusagen, schwer aber, sich bejahend auf die ungeordneten und schmutzigen Zusammenhänge des Lebens einzulassen (was v. a. vor dem politischen Hintergrund des von Pétain regierten Frankreich umso plausibler und zugleich problematisch wird. Doch als er A. nicht überzeugen kann, ist sein Fazit: »Antigone war geschaffen, um tot zu sein.« Sein Unverständnis für A. weist die Grenzen und damit die Haltlosigkeit seiner eigenen Haltung aus: »Sein zum Tode« und Totsein und sind für Créon dasselbe.

Statt einen metaphysischen Konflikt auf den Punkt zu bringen, legt Anouilh anhand dieser absurden Konstellation Grundmuster des Tragischen frei. Unmittelbar nach der Exposition ironisiert der Chor den schlichten Verlust tragischer Notwendigkeit und damit den Mangel an Unvorhersehbaren, der die Tragödienlogik gegenüber der Wirklichkeit auszeichnet. Genau diese Tragödienlogik findet sich in Anouilhs A. personifiziert. Bestand A. schon bei Sophokles gewissermaßen auf ihrem Schicksal […], so besteht sie bei Anouilh nun gleichzeitig auch metapoetisch auf ihrer Tragödie. Gerade in diesem Sinne wird bedeutend, wenn der Charakter der laut Text zwanzigjährigen A. Zweifel weckt: Ihre Amme und Haimon behandeln A. wie ein kleines Kind; Polynice begräbt sie mit einer Sandkastenschaufel; umso erbitterter scheint sie ernstgenommen werden zu wollen – und zwar gerade darin, die relativierte Welt der ›Erwachsenen‹ nicht begreifen zu wollen […]. Der tragische Konflikt weist damit basalpsychologisch bereits Züge von infantilem verhalten auf – und so läßt Anouilh die zum Paradigma gewordene Tragödie in der Logik einer Trotzreaktion aufgehen. Sein Umgang mit dem Labdakidenmythos entpuppt sich als diametral entgegengesetzt zu demjenigen S. Freuds. Versuchte Freud die Entwicklungstendenz des Kindes auf den Mythos als unumgängliches Los des Menschen zu fassen, so legt Anouilhs antihumanistischer Gestus statt dessen eine infantile Logik des Mythischen frei“

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GakupoKamui 
Beitragsersteller
 12.11.2011, 21:33

Vielen Herzlichen Danke. :)

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Halbrecht  03.04.2020, 23:04

mensch , so viel Mühe und nicht ein Dank ..................

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