Plinius: "Wer Fehler hasst, hasst Menschen"

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Die Textstelle ist Plinius, Epistulae 8, 22, 2:

Atque ego optimum et emendatissimum existimo, qui ceteris ita ignoscit, tamquam ipse cotidie peccet, ita peccatis abstinet, tamquam nemini ignoscat.

„Und ich für meine Person schätze den als Besten und Fehlerfreiesten ein/halte den für den Besten und Fehlerfreiesten, der den anderen so verzeiht, als ob er selbst täglich Fehler/Verfehlungen begeht, so von Fehlern/Verfehlungen frei ist/sich so von Fehlern/Verfehlungen fernhält, als ob er niemandem verzeiht.“

Mit zwei Superlativen (optimum et emendatissimum) wird ein vollkommener Mensch dargestellt. Es handelt sich um ein philosophisches Ideal des Weisen, in völligem Ausmaß in der Wirklichkeit höchstens in seltenen Ausnahmefällen anzutreffen.

Diesen idealen Menschen kennzeichnen zwei Handlungen bzw. innere Einstellungen. Er verzeiht allen anderen Menschen, wobei er sich vorstellt, er selbst begehe tägliche Verfehlungen, sei also nicht besser oder sogar noch schlechter als die anderen. Er begeht keine Verfehlungen, wobei er sich vorstellt, er verzeihe niemanden.

Die Handlung steht im Indikativ (ignoscit; * abstinet), eine die Handlung beeinflussende Vorstellung, die hypothetisch ist, im Konjunktiv (peccet; * ignoscat).

Zuerst ist Verzeihen die Handlung, eigenes tägliches Begehen von Fehlern/Verfehlungen hypothetische Vorstellung, dann ist Freisein von Fehlern/Verfehlungen die Handlung und Nicht-Verzeihen die hypothetische Vorstellung. Es ist ein richtiges Gespür, hier auf ein Verständnisproblem zu stoßen. Es besteht tatsächlich ein Gegensatz: der erste Teil enthält durch Verzeihen Milde/Nachsicht mit Fehlern, im zweiten Teil kommt damit, niemandem zu verzeihen, eine strenge und unerbittliche Einstellung, die aufgrund des ersten Teils (Verzeihen) als Wirklichkeit ausgeschlossen ist. Die hypothetische Vorstellung (Nicht-Verzeihen) im Vergleich des so – als ob (ita - tamquam) ist vorher schon, soweit es eine reale Handlung des Besten und Fehlerfreiesten betrifft, ausgeschlossen worden. Das Nicht-Verzeihen ist etwas, das nur in einer hypothetischen Formulierung vorkommt. Für richtig gehalten/gebilligt wird, anderen zu verzeihen und selbst fehlerfrei zu sein.

Es gibt Anforderungen des Richtigen. Der Weise tritt für sie ein, ist sich aber auch der Beschränktheit und Grenzen des Menschen bewußt. Der Mensch ist für Fehler anfällig und daher der verzeihenden Nachsicht bedürftig. Das Ideal, selbst fehlerfrei zu sein, besteht aber. Ein Festhalten daran ist, als ob der Weise einen Fehler/eine Verfehlung niemandem (also ganz allgemein nicht) verzeihen könnte. Der Weise bleibt beim Streben nach Selbstvervollkommnung.

Die Fortsetzung in 8, 22, 3 verdeutlich, wie das Verständnisproblem zu lösen ist. Plinius ruft dazu auf, mit uns selbst unversöhnlich zu sein, dagegen versöhnlich sogar mit denen, die niemanden außer sich selbst verzeihen könne, die sich also selbstgerecht verhalten.

Die Unversöhnlichkeit mit sich selbst greift auf, selbst fehlerfrei sein zu wollen. Die Versöhnlichkeit mit anderen greift in einer Steigerung auf, allen zu verzeihen.

Niemand ist Fehlerfrei!

Behandle die Fehler von anderen mit ebenso viel Milde wie deine eigenen.

Wer seine eigenen Fehler sieht, ist viel zu beschäftigt, um die der anderen zu sehen.