Lehnte Feuerbach die Moral des Christentums ab?

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Ludwig Feuerbach hat die Moral des Christentums abgelehnt.

Dabei hat er aber nicht alle moralischen Inhalte des Christentums abgelehnt. Wesentlich ist ihm eine Umkehrung der Grundlage der Ethik.

Das moderne Christentum beurteilt er als geschichtlich überholte Kulturform. Die christliche Religion habe sich unumkehrbar in äußere, aufgestellte Gesetze und Dogmen (tote Objektivität) einerseits, einen Bereich reiner Innerlichkeit (bloße Subjektivität) aufgespalten. Das moderne Christentum fixiere in seiner Orientierung auf einen persönlichen, transzendenten Gott und auf die Unsterblichkeit der einzelnen Seele den Menschen auf sein abschließendes Personsein und trenne ihn damit von den anderen Menschen ab. Die Ausrichtung lasse den Menschen die diesseitige Welt verkennen und besiegele die tatsächliche Entfremdung.

Ludwig Feuerbach hat seine Ethik auf Anthropologie gegründet. Seine Absicht ist, den Menschen spezifisch von seinem leiblichen, sinnlich-gefühlshaften und begehrenden Dasein her zu erschließen. Erkenntnis wird auf erlebnishafte, sinnlich-gegenständliche Anschauungen zurückgeführt, aus denen im weiteren zum Denken aufgestiegen werden soll.

Parallelen zu den Standpunkten von Friedrich Nietzsche sind in der Ethik bei Ludwig Feuerbach seine Ablehnung einer lebensfeindlichen Askese und eine Ablehnung einer Verachtung des Diesseits mit einer tiefen Spaltung zwischen Diesseits und Jenseits.

Unterschiede gibt es z. B. zwischen scharfen Aussagen gegen einen Gleichheitsgedanken bei Friedrich Nietzsche und einer allgemeinen Liebe zum Menschen als vernunft- und liebesfähiges Wesen bei Ludwig Feuerbach und an einer polemischen Wendung (vor allem gegen einen Utilitarismus wie bei den Engländern Jeremy Bentham und John Stuart Mill) bei Friedrich Nietzsche gegen Glück als höchstes Ziel des Strebens und Grundlage der Ethik, während Ludwig Feuerbach eine Glücksethik vertritt: Glück/Glückseligkeit ist das höchste und letzte Ziel (Endziel) menschlichen Handelns. Diese Theorie wird auch als Eudaimonismus (griechisch: εὐδαιμονία [eudaimonia] = Glück(seligkeit), was ein guten Leben des Wohlbefindens und Wohlergehens bedeutet) bzw. latinisiert als Eudämonismus bezeichnet.

Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert (1889). Sprüche und Pfeile. 12: „Hat man sein warum? des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem wie? — Der Mensch strebt nicht nach Glück; nur der Engländer thut das.“

Ludwig Feuerbach in seinem Briefwechsel und Nachlass sowie in seiner philosophischen Charakterentwicklung. Dargestellt von Karl Grün. Band 2: Ludwig Feuerbach’s Briefwechsel und Nachlass. 1850-1872. Leipzig & Heidelberg : C. F. Winter'sche Verlagshandlung, 1874, S. 253:

„Was lebt, liebt, wenn auch nur sich, sein Leben, will leben, weil es lebt, sein, weil es ist, aber, wohlgemerkt! nur wohl, gesund, glücklich sein; denn nur Glücklichsein ist Sein im Sinne eines lebenden, empfindenden, wollenden Wesens. Was will, will nur – wenn anders nicht, wie beim Menschen, Wahn, Täuschung, Irrthum, Verkehrtheit sich zwischen dem Willen und dem Gegenstand des Willens einstellt – was ihm nützlich, heilsam, gut ist, was ihm wohl- und nicht übelthut, was sein Leben fördert und erhält, nicht beeinträchtigt und zerstört, seinen Sinnen gemäß, nicht zuwider ist, kurz was es glücklich macht, nicht unglücklich, elend macht. Ja, Wollen und glücklich machendes Wollen, folglich glücklich sein Wollen ist, wenn man die ursprüngliche und unverfälschte Naturbestimmung und Naturerscheinung des Willens ins Auge fasst, unzertrennlich, ja wesentlich Eins. Wille ist Glückseligkeitswille.“

„Der Glückseligkeitstrieb ist der Ur- und Grundtrieb alles dessen, was lebt und liebt, was ist und sein will, was athmet und nicht „mit absoluter Indifferenz“ Kohlensäure und Stickstoff, statt Sauerstoff, tödtliche Luft statt belebender, in sich aufnimmt.“

Die Religionskritik Ludwig Feuerbach hat das Ziel, von einer Art der Religion zu befreien, die willkürlich etwas als gottgewollt begründet und statt einer Zuwendung zum Leben, zum Menschen seine Kräfte vergeudet, den Menschen einem Gottesglauben aufopfert und die ethische Gesinnung zerstört. Die Religionskritik beabsichtigt, den Weg zur Gottheit des Menschen als Zweck/Endzweck der Religion zu bereiten, mit Liebe und Wohltätigkeit zu Menschen und Dankbarkeit dafür

Ludwig Feuerbach vollzieht einen Versuch, geschichtlich-kulturelle Objektivierungen (Erscheinungsformen, in denen sich nach idealistischer Auffassung Geistiges entäußert) auf das menschliche Wesen als ihren wahren Ursprungsort zurückzuführen (z. B. den absoluten Geist auf den konkreten Menschen, die verselbständigte Vernunft auf die Sinnlichkeit, die Religion auf die Liebe).

Er versteht seine Anthropologie als Synthese (Verbindung) von Idealismus und Materialismus.

Feuerbach bestimmt Religion als ein Verhalten des Menschen zu seinem Gattungswesen (Verhalten zu seinem – subjektiven - Wesen als zu einem anderen Wesen; das göttliche Wesen ist nichts anderes das von den Schranken des individuellen Menschen gereinigte und befreite Wesen des Menschen, als ein anderes, von ihm unterschiedenes, eigenes Wesen angeschaut und verehrt). Damit versteht er Religion als ein Produkt des Menschen selbst. Der Selbstbezug im Bereich der Religion werde allerdings nur indirekt bewusst. Der Mensch vergegenständliche sein Wesen und mache dann wieder sich zum Objekt dieses vergegenständlichten, in ein Subjekt verwandelten Wesens.

In „Das Wesen des Christentums, Schlußanwendung“ wendet sich Feuerbach dagegen, Moral und Recht auf Theologie zu gründen, statt alle wesentlichen Verhältnisse wie Moral und Recht durch sich selbst zu begründen.

In der Schrift „Das Wesen der Religion“ (1845) erklärt Feuerbach die Religionsentstehung einerseits mit einem Abhängigkeitsgefühl (subjektiver Faktor), andererseits mit der Natur (objektiver Faktor). Der Mensch ist von der Natur abhängig und fühlt sich von ihr abhängig. Die Aufhebung der Abhängigkeit von der Natur, die gefühlte Abhängigkeit in Freiheit zu verwandeln, sei Sinn des Opfers, in dem sich das ganze Wesen der Religion versinnliche und konzentriere. Das Gefühl der Abhängigkeit, die Gottheit der Natur sei Grund der Religion, die Freiheit von der Natur, die Gottheit des Menschen Zweck/Endzweck der Religion.

Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums. Teil 2: Das unwahre, d.i. theologische Wesen der Religion. Kapitel 27: Der Widerspruch von Glaube und Liebe.

„Alle auf eine besondere Erscheinung gegründete Liebe widerspricht, wie gesagt, dem Wesen der Liebe, als welche keine Schranken duldet, jede Besonderheit überwindet. Wir sollen den Menschen um des Menschen willen lieben. Der Mensch ist dadurch Gegenstand der Liebe, daß er Selbstzweck, daß er ein vernunft– und liebefähiges Wesen ist. Dies ist das Gesetz der Gattung, das Gesetz der Intelligenz. Die Liebe soll eine unmittelbare Liebe sein, ja sie ist nur, als unmittelbare, Liebe. Schiebe ich aber zwischen den Andern und mich, der ich eben in der Liebe die Gattung verwirkliche, die Vorstellung einer Individualität ein, in welcher die Gattung schon verwirklicht sein soll, so hebe ich das Wesen der Liebe auf, störe die Einheit durch die Vorstellung eines Dritten außer uns; denn der Andere ist mir dann nur um der Ähnlichkeit oder Gemeinschaft willen, die er mit diesem Urbild hat, nicht um seinetwillen, d.h. um seines Wesens willen Gegenstand der Liebe. Es kommen hier alle Widersprüche wieder zum Vorschein, die wir in der Persönlichkeit Gottes haben, wo der Begriff der Persönlichkeit notwendig für sich selbst, ohne die Qualität, welche sie zu einer liebens- und verehrungswürdigen Persönlichkeit macht, im Bewußtsein und Gemüt sich befestigt. Die Liebe ist die subjektive Existenz der Gattung, wie die Vernunft die objektive Existenz derselben. In der Liebe, in der Vernunft verschwindet das Bedürfnis einer Mittelsperson. Christus ist selbst nichts als ein Bild, unter welchem sich dem Volksbewußtsein die Einheit der Gattung aufdrang und darstellte. Christus liebte die Menschen: er wollte sie alle ohne Unterschied des Geschlechts, Alters, Standes, der Nationalität beglücken, vereinen. Christus ist die Liebe der Menschheit zu sich selbst als ein Bild – der entwickelten Natur der Religion zufolge – oder als eine Person –, eine Person, die aber – versteht sich, als religiöser Gegenstand – nur die Bedeutung eines Bildes hat, nur eine ideale ist. Darum wird als Kennzeichen der Jünger die Liebe ausgesprochen. Die Liebe ist aber, wie gesagt, nichts andres als die Betätigung, die Verwirklichung der Einheit der Gattung durch die Gesinnung. Die Gattung ist kein bloßer Gedanke; sie existiert im Gefühle, in der Gesinnung, in der Energie der Liebe. Die Gattung ist es, die mir Liebe einflößt. Ein liebevolles Herz ist das Herz der Gattung. Also ist Christus als das Bewußtsein der Liebe das Bewußtsein der Gattung. Alle sollen wir eins in Christus sein. Christus ist das Bewußtsein unserer Einheit. Wer also den Menschen um des Menschen willen liebt, wer sich zur Liebe der Gattung erhebt, zur universalen, dem Wesen der Gattung entsprechenden Liebe, der ist Christ, der ist Christus selbst. Er tut, was Christus tat, was Christus zu Christus machte. Wo also das Bewußtsein der Gattung als Gattung entsteht, da verschwindet Christus, ohne daß sein wahres Wesen vergeht; denn er war ja der Stellvertreter, das Bild des Bewußtseins der Gattung.“

Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums. Teil 2: Das unwahre, d.i. theologische Wesen der Religion. Kapitel 28: Schlußanwendung.

„Unser Verhältnis zur Religion ist daher kein nur verneinendes, sondern ein kritisches; wir scheiden nur das Wahre vom Falschen – obgleich allerdings die von der Falschheit ausgeschiedne Wahrheit immer eine neue, von der alten wesentlich unterschiedne Wahrheit ist. Die Religion ist das erste Selbstbewußtsein des Menschen. Heilig sind die Religionen, eben weil sie die Überlieferungen des ersten Bewußtseins sind. Aber was der Religion das Erste ist, Gott, das ist, wie bewiesen, an sich, der Wahrheit nach das Zweite, denn er ist nur das sich gegenständliche Wesen des Menschen, und was ihr das Zweite ist, der Mensch, das muß daher als das Erste gesetzt und ausgesprochen werden. Die Liebe zum Menschen darf keine abgeleitete sein; sie muß zur ursprünglichen werden. Dann allein wird die Liebe eine wahre, heilige, zuverlässige Macht. Ist das Wesen des Menschen das höchste Wesen des Menschen, so muß auch praktisch das höchste und erste Gesetz die Liebe des Menschen zum Menschen sein. Homo homini Deus est – dies ist der oberste praktische Grundsatz –, dies der Wendepunkt der Weltgeschichte.“

„Im Christentum werden die moralischen Gesetze als Gebote Gottes gefaßt; es wird die Moralität selbst zum Kriterium der Religiosität gemacht; aber die Moral hat dennoch untergeordnete Bedeutung, hat nicht für sich selbst die Bedeutung der Religion. Diese fällt nur in den Glauben. Über der Moral schwebt Gott als ein vom Menschen unterschiedenes Wesen, dem das Beste angehört, während dem Menschen nur der Abfall zukommt. Alle Gesinnungen, die dem Leben, dem Menschen zugewendet werden sollen, alle seine besten Kräfte vergeudet der Mensch an das bedürfnislose Wesen. Die wirkliche Ursache wird zum selbstlosen Mittel, eine nur vorgestellte, eingebildete Ursache zur wahren, wirklichen Ursache. Der Mensch dankt Gott für die Wohltaten, die ihm der andere selbst mit Opfern dargebracht. Der Dank, den er seinem Wohltäter ausspricht, ist nur ein scheinbarer, er gilt nicht ihm, sondern Gott. Er ist dankbar gegen Gott, aber undankbar gegen den Menschen. So geht die sittliche Gesinnung in der Religion unter! So opfert der Mensch den Menschen Gott auf!“

„Wo die Moral auf die Theologie, das Recht auf göttliche Einsetzung gegründet wird, da kann man die unmoralischsten, unrechtlichsten, schändlichsten Dinge rechtfertigen und begründen.“

„Etwas in Gott setzen oder aus Gott ableiten, das heißt nicht weiter als etwas der prüfenden Vernunft zu entziehen, als unbezweifelbar, unverletzlich, heilig hinzustellen, ohne Rechenschaft darüber abzulegen. Selbstverblendung, wo nicht selbst böse, hinterlistige Absicht, liegt darum allen Begründungen der Moral, des Rechts durch die Theologie zugrunde.“

„Hat die Moral keinen Grund in sich selbst, so gibt es auch keine Notwendigkeit zur Moral; die Moral ist dann der bodenlosen Willkür der Religion preisgegeben.

Es handelt sich also im Verhältnis der selbstbewußten Vernunft zur Religion nur um die Vernichtung einer Illusion – einer Illusion aber, die keineswegs gleichgültig ist, sondern vielmehr grundverderblich auf die Menschheit wirkt, den Menschen, wie um die Kraft des wirklichen Lebens, so um den Wahrheits- und Tugendsinn bringt;“

Was ist denn bitte „die Moral des Christentums“?

Ethische universelle Werte wie Nächstenliebe, Solidarität, Verantwortung etc. haben nichts ursächlich mit Christentum zu tun.