Kritik an Platons Staatsideal?
Danke für die schnellen Antworten. Ihr habt mir sehr weitergeholfen. Jedoch hab ich grad folgendes Meme auf Reddit gefunden und ich verstehe nicht warum Platons Staatsideal als was schlechtes dargestellt wird, weil eigentlich ist die Grundidee „Jedem das seine, jeder bekommt das, was ihm zusteht, jeder macht das, was er/sie am besten kann.“ doch gar nicht mal so schlecht. Was hat es mit der Kritik auf sich?
1 Antwort
Die Grundsätze »Jedem das seine« oder (inhaltlich) nahezu gleich) »Jeder bekommt das, was ihm zusteht« sind nicht an sich schlecht, aber wenig deutlich und können bei der konkreten Umsetzung auch zur Rechtfertigung von ungerechten Handlungen und Zuständen verwendet werden. Bei dem bloßen Grundsatz fehlt ein Kriterium/Maßstab zur Verwirklichung einer gerechten Verteilung.
Ein Grundsatz »Jeder macht das, was er/sie am besten kann« ist ähnlich wie »Jeder nach seinen Fähigkeiten«. Die Entfaltung von Begabungen und die Beachtung von Fähigkeiten sind sinnvoll. Der Grundsatz kann aber auch verwendet werden, um bestimmten Menschen Tätigkeiten zu verbieten und sie von Mitsprache und Mitbestimmung auszuschließen. Den Menschen wird dann verboten, etwas zu tun oder an etwas beteiligt zu sein, mit der Begründung, dass sie dies nicht sehr gut können bzw. keine Fähigkeiten dazu haben.
Mit Vorschriften unnd Verboten kann ein Mangel an Freiheit entstehen.
In Platons Staatsideal herrscht eine einzige bestimmte Gruppe, während die anderen von Teilhabe an politischen Entscheidungen ausgeschlossen sind. Dies ist nicht demokratisch. Es gibt politisch große Ungleichheit.
Die drei Stände/Klassen (manchmal etwas zu ungenau und vereinfacht als Lehrstand, Wehrstand und Nährstand angegeben) im Staat, den Platon entwirft, sind:
1) Philosophen
2) Wächter (dienen z. B. als Krieger)
3) Erwerbsbarbeit Betreibende (z. B. Bauern, Handwerker, Händler/Kaufleute)
Es sind als in Entsprechungen aufeinander bezogen:
Philosophen – Weisheit – das Vernünftige
Wächter –Tapferkeit – das sich Ereifernde
Erwerbsbarbeit Betreibende – Besonnenheit – das Begehrliche
Es gibt in dem Staat Arbeitsteilung und Hierarchie (Unter-/Überordnung)
Aristoteles, Politik 2, 2 - 5 richtet Einwände gegen Platon (die Dialogfigur Sokrates), mit dem er grundsätzlich in der Bedeutung vom Tugend/Vortrefflichkeit als im Staat anzustreben übereinstimmt:
- Übertreibung bei Einheit durch Übermaß bei der Führungsschicht der Wächter ist nachteilig, zerstört Staat, der in einer Einheit verschiedenartiger einzelner Menschen besteht, in seinem Wesen, macht künstlich aus ihm eine riesige Familien- und Hausgemeinschaft
- Privateigentum ermöglicht Freude an wirtschaftlicher Tätigkeit, Aristoteles bevorzugt daher einen Staat mit Privateigentum, verbunden mit gemeinsamer Nutzung gegenüber der Gütergemeinschaft bei Platon
- Frauengemeinschaft und Kindergemeinschaft, große Einheitlichkeit, lösen Familie und enge persönliche Beziehungen /Freudschaften auf
- wichtiger Gruppe des Staates, den Wächtern, würde das Glück genommen, wodurch es am Glück der Gesamtheit mangele (das Argument berücksichtigt Platons Überlegungen nicht vollständig; vgl. Platon Politeia 419 a - 421 c, 465 d – 466 b, 519 d – 520 a)
- Erziehung gebe es nicht für alle, die niedere Schucht der arbeitenden Bevölkerung und die Führungsschicht könnten sich feindlich wie zwei Staaten in einem Staat gegenüberstehen
Georg Wilhelm Hegel bemängelt bei grundsätzlicher Zustimmung zum allgemeinen Zweck das Fehlen von subjektiver Freiheit der Individuen, einen Mangel an Freiheit der Einzelnen (ihnen wird kein Bewegungsspielraum für selbständige Besonderheit gelassen, sondern das Ganze übergestülpt).
Eine Reihe von Einwänden und Vorwürfen (wie rückwärtsgewandter/reaktionärer Versuch der Erneuerung einer Adelsordnung, Klassen- und Kastenstaat repressiven, sogar totalitärer Charakters, Fremdenfeindlichkeit, Militarismus, Herrenklasse, die sich als überlegene Herrenrasse fühlt und die Menge als menschliches Herdenvieh aufaßt, deren einziger Zweck sei, für die materiellen Bedürfnisse der herrschenden Klasse zu sorgen) enthält:
Karl Raimund Popper. Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band 1: Der Zauber Platons. 8. durchgesehene und ergänzte Auflage. Herausgegeben von Hubert Kiesewetter. Tübingen : Mohr Siebeck, 2003. ISBN 3-16-147801-0 (deutsch zuerst 1957; englisch zuerst 1945: The open society and its enemies. Volume 1: The spell of Plato)
- Historizismus (Voraussage der Zukunft aufgrund vermeintlich fester historischer Gesetze)
- gefährliche Utopie einer Technik der Ganzheitsplanung der Führung statt Sozialtechnik der Einzelprobleme
- Gegnerschaft Platons zur offenen Gesellschaft, der eine gegen Veränderungen abgeschottete Gesellschaft befürwortet
- antirationale Ideologie (Metallmythos, Dialektik, Ideenlehre), die den Trägern dieser Ideologie uneingeschränkte Macht sichere (die Einschätzung des Denkens als antirational hängt wesentlich von Poppers zu Platon stark entgegengesetzter Erkenntnistheorie ab).
- Kollektivismus (Individuum wird dem Kollektivwohl unterworfen), im Namen des Gemeinwohls gelten Gewalt und Lüge als erlaubt
Popper meint, die Frage, wer herrschen solle, sei nicht die richtige. Es käme darauf an, wie geherrscht würde und welches politische System bestehe. Dieses müsse für unvollkommene Menschen tauglich sein. Es sollten keine einzelnen Menschen uneingeschränkte Macht haben, ohne Kontrolle Herrschaft ausüben. Platons Staat ist von ihm nicht als totalitärer Staat gedacht (die Herrschenden haben keine Begierde nach Herrschaft; es gibt z. B. keine Massenorganisation, keine Geheimpolizei, keinen großen Machtapparat). Allerdings gibt es zu einigen Fragen der Lebensführung eine starke Neigung zur Reglementierung (bis hin zu Einengung von Freiheit und Unterdrückung). Eine gewisse, aber begrenzte Nähe zu totalitären Tendenzen besteht in ein paar Einzelfragen (wobei es um Einhaltung von Grundlagen und Rahmenbedingungen geht). Bei einem Versuch einer realen Umsetzung gibt es ein Risiko, in eine repressive, autoritäre bis eventuell totalitäre Richtung wegzurutschen.
weitere Einwände und Vorbehalte:
- Gerechtigkeitsbegriff sei unklar, inhaltsleer oder gehe am üblichen Verständnis vorbei:
Gerechtigkeit bedeutet nach Platon, das Seine zu tun (Platon, Politeia 433b τοῦτο τοίνυν, ἦν δ᾽ ἐγώ, ὦ φίλε, κινδυνεύει τρόπον τινὰ γιγνόμενον ἡ δικαιοσύνη εἶναι, τὸ τὰ αὑτοῦ πράττειν). Gerechtigkeit besteht in einem Haben und Tun des Eigenen und Seinen (Platon, Politeia 433 e – 434 a ἡ τοῦ οἰκείου τε καὶ ἑαυτοῦ ἕξις τε καὶ πρᾶξις δικαιοσύνη).
Bei Platon ist Gerechtigkeit in ihrem Wesen vor allem ein Verhältnis zu sich selbst (Beziehung von Strebensformen in der Seele).
- Eugenik
- Erlaubtheit „edler Lüge“/„edlen Betrugs“ zum allgemeinen Nutzen (Platon Politeia 377 d – e; 389 b – c; 414 b – 415 d)
- Zensur (Ausweisung der Dichtung, soweit sie von nachahmender Art ist, Platon, Politeia 595 a – 608 c; Vorschrift zum Weglassen von Tonarten wie der ionischen und der lydischen, da sie jammernd und weichlich seien, Platon, Politeia 398 c – 399 a)
- Überlegung einer Ausweisung der über 10 Jahre alten Bevölkerung aufs Land und Erziehung ihrer Kinder nach eigenen Grundsätzen und Gesetzen als schnellster und einfachster Weg, den Staat zustande zu bringen