Hat Deutschland im europäischen Vergleich eher weniger Altbauten (relativ)?
Hallo,
es geht um einen Anteil an der Gesamtbausubstanz. Ich kann mich für alle Stile begeistern, die vor Bauhaus kamen, also alles bis einschließlich Jugendstil. Bauhaus find ich nur als Ergänzung gut, wenn es ein paar stilistische Beigaben enthält (Erker mit Klinkern oder so). Ich könnte mir vorstellen, dass Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Staaten teils deutlich weniger Altbausubstanz hat (relativ betrachtet und vielleicht in erster Linie auf Mehrfamilienhäuser usw., aber nicht auf Einfamilienhäuser bezogen).
Nicht für die Frage notwendig:
Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ganze Plätze und Straßenzüge neu (leider in der Regel nach meinem Geschmack hässlich). In der Regel wurden, wenn überhaupt - oft nur einige Altstädte (oder Teile davon) wiederaufgebaut, teils aufgrund der Not bedingt, teils aufgrund veränderter Vorlieben.
Mir ist nicht bekannt, dass man bewusst Gründerzeitviertel wiederaufgebaut hat. Sicherlich hat man viele beschädigte Gebäude wieder bewohnbar gemacht. Aber ich glaube, der empfundene, gestalterische Wert der Gründerzeitarchitektur stand damals nicht so hoch im Kurs, heute hingegen deutlich stärker. Aus historischer Sicht waren die Gebäude ja nicht alt zum Kriegsende (je nach Baujahr um die 30 bis 75 Jahre). Mir hat in Deutschland diese Mischung aus mittelalterlichen und barocken Altstädten und die Anlage von Gründerzeitvierteln um sie herum gefallen. Klar, der Lebensstandard war zur Kaiserzeit in den normalen Arbeiterwohnungen für die Tonne, aber heute lebt man so ja in der Regel nicht mehr und die Gebäude sind oft aufwendig saniert.
Geschmäcker sind verschieden, aber das hier ist mein persönlicher und ich glaube, dass viele Menschen eine Sehnsucht nach den alten Stadtbildern haben. Vielen ist vermutlich gar nicht bewusst, wie viel Bausubstanz verloren gegangen ist. Nicht nur durch Bomben, aber da natürlich besonders, auch durch Gebietsverluste nach den beiden Weltkriegen (Posen, Breslau, Straßburg, Königsberg, Danzig usw.) - die Städte sehen (vermutlich bis auf Königsberg, heute Kaliningrad) alle top aus. Also die Bausubstanz ist in diesen Fällen zwar für Deutschland verloren, aber nicht grundsätzlich. Zudem gab es fatale Abrisse, zum Beispiel des prunkvollen, im Zweiten Weltkrieg lediglich beschädigten Kölner Opernhauses oder einer Kirche in Hamburg (hatte mal ein Video gesehen, das neu aussah, vermutlich aus wirtschaftlichen Gründen).
In Warschau war ich erstaunt, wie toll man die Altstadt wiederaufgebaut hat, dann gibt es ein paar Hochhäuser bzw. Wolkenkratzer, aber auch leider hässliche Nachkriegsblöcke, wo früher wahrscheinlich Gebäude im Stil des Historismus standen (war glaube ich das ehem. Warschauer Ghetto, das von den Nazis nach dem Aufstand dem Erdboden gleichgemacht wurde).
In Edinburgh ist mir aufgefallen, dass die Stadt sehr viele Altbauten und nur wenige Bauten aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hat, was nicht heißt, dass jedes alte Gebäude wunderschön ist. Vermutlich wurde die Stadt nicht oder nicht intensiv bombardiert. Da ist mir ein deutlicher Unterschied zu vielen deutschen Städten aufgefallen.
In Paris gab es keine größeren Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg, soweit ich weiß, aber ich hatte mal zwei Fotos gesehen, die jeweils einen Vorgängerbau und seinen Nachfolgebau zeigen. Das Vorgängergebäude sah einwandfrei aus (nicht baufällig und mit toller, verzierter Fassade) und wurde abgerissen und durch einen Glasneubau ersetzt. Da war ich geschockt.
War kürzlich in Venedig und Verona, leider nur jeweils eher kurz. Aber in den Altstädten selbst habe ich nicht einen Neubau gesehen oder vielleicht einen. Aber wie gesagt, da hatte ich leider nicht extrem viel Zeit.
3 Antworten
Ich kann deinen Text zum größten Teil unterstreichen. Noch in meiner Kindheit wurde wundervolle Architektur einfach weg gerissen. Eine "autogerechte Stadt" sollte entstehen. Die wenigen Reste der Altstadt wurden fast vollständig damals beseitigt. Heute besteht die Altstadt aus zwei bis drei Straßenzügen.
Du hast völlig recht, in Polen hat man die Altstädte wieder neu rekonstruiert. Du hast Warschau zu recht erwähnt, denn das wurde gleich nach dem Krieg nach Gemälden von Canaletto rekonstruiert.
Bei Kaliningrad gebe ich dir auch recht, die Stadt hat ihr altes Gesicht verloren.
Eine orginal mittelalterliche Deutsche Stadt ist Sibiu in Siebenbürgen. Falls du dort noch nicht warst, lohnt sich ein Direktflug dorthin.
In Großbritannien gab es relativ geringe Kriegsschäden, wie auch in Belgien, sodass die Altstädte erhalten blieben.
Mir geht es bei der Architektur wie dir, ich mag die Vielfältigkeit und besichtige super gerne Altstädte. Von Tallinn war ich begeistert, weil ich es nicht erwartet hatte. Da ist auch noch die Lage ideal auf einem Felsvorsprung direkt an der Ostsee.
Freut mich, Sibiu besitzt noch die alte Stadtmauer und die wichtigsten Sehenswürdigkeiten sind in rumänisch und deutsch beschriftet. An der Uni gibt es sogar Vorträge in deutsch und eine deutsche Handwerkergilde ist sogar noch aktiv.
Es ist schon etwas besonderes, wenn man im Geschäft versucht, sich auf englisch verständlich zu machen und dann in fließenden deutsch geantwortet wird.
Die Kirchenburgen sind ebenfalls höchst interessant, da hatte ich leider nur die Zeit, zwei von zu besichtigen.
Das klingt sehr interessant. Und natürlich ist es auch angenehm, wenn man sich auch auf Deutsch verständigen kann. Das werden wir sicherlich mitnehmen, wenn wir in Rumänien sind.
Wenn ihr zum Donaudelta kommt (dort ist mehr Tourismus, als an den anderen Stellen) lohnt in Tulcea das Donaudeltamuseum als Vorabinformation https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/versicherungen/krankenversicherung/krankenversicherung-versicherte-mit-wohnsitz-im-ausland/versicherungspflicht/grenzgaengerinnen-ch.html
Mir hat Rumänien so gut gefallen, dass ich daraufhin in Moldawien Urlaub gemacht habe. Architektonisch bietet Moldawien jedoch relativ wenig. Es gibt jedoch sehr schöne Parkanlagen in der Hauptstadt.
Nur in den Städten, die vom Krieg relativ verschont wurden. Der Rest wurde ja quasi pulverisiert, und nach dem Krieg musste schnell wieder neuer Wohnraum her. Da konnte man wenig Rücksicht auf die Architektur und alte Gebäude nehmen.
Schau Dir Paris an, dann bekommst Du in etwa eine Idee, wie Berlin heute aussehen könnte, wenn Hitler nicht an die Macht gekommen wäre.
Aber auch mit ihm und ohne Krieg wäre Berlin heute wohl eher eine Betonwüste, wenn er sein Germania-Projekt hätte durchziehen können. Dafür wollte er auch ganze Stadtteile dem Erdboden gleich machen und alles neu bauen.
Vielleicht wären aber auch so schon viele Häuser des 19. Jahrhunderts in den letzten 100 Jahren mittlerweile Modernisierung und gentrifizierung zum Opfer gefallen.
Wenn Du noch nicht da warst, könntest du dir aber mal Heidelberg anschauen.
Hat zwar auch einiges abbekommen, aber zumindest die Altstadt wurde nach dem Krieg wieder einigermaßen restauriert.
Die altstadt ist wirklich wunderschön. der Rest, besonders die neue Bahnstadt, eher weniger.
In Relation zum Gesamtbestand aller Gebäude wahrscheinlich weniger als Frankreich, Italien oder Großbritannien, weil dort die Kriegsschäden geringer waren. Aber in Vergleich zu Osteuropa, den USA und anderen Teilen der Welt ist der Anteil bestimmt höher.
Und in absoluten Zahlen der vor 1918 errichteten Gebäude würde ich sogar behaupten, dass Deutschland hier Weltspitze ist. Das Land hatte damals die meisten Einwohner und den größten Gebäudebestand der westlichen Welt. Und auch wenn man die Kriegsschäden abzieht, gibt es hierzulande wahrscheinlich zahlenmäßig mehr alte Gebäude als in allen anderen europäischen Ländern sowie den USA.
Die absoluten Zahlen wären tatsächlich auch sehr interessant im Vergleich.
Ich hatte mal eine Statistik gesehen, bei der ich aber nicht mehr weiß, um was für eine Kategorie es ging, kann sein, dass es Wohnungen waren. Da war ich damals erstaunt, wie wenige Menschen in Deutschland in Gebäuden leben, die 1918 oder früher errichtet wurden. Kann sein, dass es nur 17 Prozent oder so sind. Das weiß ich nicht mehr genau. Ich habe aber mal überlegt, wo die Leute so leben, die man kennt. Und tatsächlich lebt die Mehrzahl wahrscheinlich in Einfamilienhäusern oder Nachkriegsmehrfamilienhäusern.
Ich hatte auch mal eine Statistik zum Alter der Gebäude in Paris gefunden (durchaus schon knapp 30 Jahre alt). Paris hat einen sehr hohen Altbaubestand, wobei es auch viele neuere Gebäude dort gibt. Die Zahlen habe ich nicht mehr genau in Kopf, aber kann sein, dass ein Drittel aus der Zeit bis ca. 1870 stammt.
Paris ist ein Sonderfall, da nur das historische Zentrum innerhalb des Autobahnrings verwaltungstechnisch Paris ist. D. h. alle jenseits davon liegenden Vororte mit ihren Neubauten gehören nicht dazu. Dass ein Drittel der Stadt älter ist als 1870 ist, kann ich mir jedoch trotzdem nicht vorstellen. Um diese Zeit wurden große Teile der mittelalterlichen Stadt abgerissen und durch die Boulevards samt angrenzenden Vierteln ersetzt. Aus älterer Zeit stammen hauptsächlich nur noch große Baudenkmäler und wenige ältere Wohnquartiere.
Ich weiß, dass nur ein sehr kleiner Teil Paris ist, aber ich zähle nur den Teil zur Stadt, der formal zur Stadt gehört, also innerhalb der Stadtgrenze liegt, denn die ist eindeutig. Die ideale Stadt hätte als Ergänzung auch schöne Vororte außerhalb der Stadtgrenze. Das Berlin aus der Kaiserzeit mit Potsdam als Vorort, alles in saniertem Zustand, wäre ein perfektes Beispiel. Der Abriss der mittelalterlichen Bebauung von Paris und der Bau der Boulevards und Haussmann-Gebäude begann bereits vor 1870. Das erklärt dann wahrscheinlich auch den großen Bestand an Gebäuden, die älter sind. Paris wurde etwas früher umgestaltet, bevor es in Deutschland zu großflächigen Gründerzeitbebauungen kam.
Der Tipp ist gut. In Sibiu war ich noch nicht. Rumänien steht sowieso noch auf dem Programm, aber das ging dieses Jahr aus zeitlichen Gründen nicht. In Tallinn war ich damals mal mit meinen Eltern. Die Altstadt ist mir sehr positiv in Erinnerung geblieben.