Frage zu Seneca (Briefe an Lucilius)?

chemandgeo  10.06.2021, 19:46

Wie lautete denn der Satz auf Latein?

flowerpower203 
Beitragsersteller
 10.06.2021, 19:53

1.Quaedam tempora eripiuntur nobis, quaedam subducuntur, quaedam effluunt.

2. Quidquid aetatis retro est, mors tenet.

1 Antwort

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Die Stelle steht am Anfang eines Briefes.

Lucius Annaeus Seneca, Epistulae morales ad Lucilium

1, 1 Ita fac, mi Lucili: vindica te tibi, et tempus quod adhuc aut auferebatur aut subripiebatur aut excidebat, collige et serva. Persuade tibi hoc sic esse, ut scribo: quaedam tempora eripiuntur nobis, quaedam subducuntur, quaedam effluunt.

Turpissima tamen est iactura, quae per neglegentiam fit. Et si volueris adtendere, magna pars vitae elabitur male agentibus, maxima nihil agentibus, tota vita aliud agentibus.

1, 2 Quem mihi dabis, qui aliquod pretium tempori ponat, qui diem aestimet, qui intellegat se cottidie mori? In hoc enim fallimur, quod mortem prospicimus: magna pars eius iam praeteriit; quidquid aetatis retro est, mors tenet.

Fac ergo, mi Lucili, quod facere te scribis, omnes horas conplectere; sic fiet, ut minus ex crastino pendeas, si hodierno manum inieceris. Dum differtur vita, transcurrit.

L. Annaeus Seneca, Epistulae morales ad Lucilium : lateinisch-deutsch = Briefe an Lucilius. Band 1. Herausgegeben und übersetzt von Gerhard Fink. Düsseldorf : Artemis & Winkler, 2009 (Sammlung Tusculum), S. 9:

(1) „Mach's nur so, mein lieber Lucilius, befreie Dich für Dich selbst, und die Zeit, die man Dir bisher entweder raubte oder stahl oder die Dir unter den Händen zerrann, die sammle und bewahre! Du darfst überzeugt sein, daß es so ist, wie ich schreibe: Einen Teil unserer Zeit entreißt man uns geradezu, einen anderen entwendet man uns heimlich, ein anderer geht uns selbst verloren.

Am meisten freilich müssen wir uns des Verlusts schämen, den eigene Gedankenlosigkeit verursacht. Und wenn Du nur einmal darauf achtest, wirst Du feststellen: Der größte Teil des Lebens vergeht, während wir etwas Schlechtes tun, ein großer Teil beim Nichtstun und das ganze Leben, während wir etwas tun, das nicht unserer Bestimmung gemäß ist.

(2) Wen kannst Du mir nennen, der der Zeit irgendeinen Wert beimißt, der den einzelnen Tag zu schätzen weiß, der einsieht, daß er täglich stirbt? In dem Punkt nämlich täuschen wir uns, daß wir auf das Sterben wie auf etwas Zukünftiges blicken: Ein großer Teil davon ist bereits vorüber. Die ganze Lebenszeit, die hinter uns liegt, gehört dem Tod an. Mach also nur das, mein lieber Lucilius, was Du, wie Du mir schreibst, tust: Halte alle Stunden energisch fest. So wird es dahin kommen, das Du weniger vom Morgen abhängig bist, wenn Du auf das Heute die Hand legst. Während man es vor sich herschiebt, verrinnt unser Leben.“

Thema ist der richtige Umgang mit der Zeit. Seneca versucht, ein Bewusstsein für das, was mit der eigenen Zeit geschieht, und den Wert der Zeit zu schaffen. Zeit wird wie ein Eigentum betrachtet. Seneca ruft dazu auf, die eigene Zeit sinnvoll zu nutzen.

Zeit geht sowohl durch äußere als auch durch innere Ursachen verloren.

Es werden drei Formen des Zeitverlustes genannt:

1) von außen verursacht, selbst bemerkt (entrissen/geraubt)

2) von außen verursacht, selbst nicht bemerkt (entzogen/gestohlen)

3) selbst (von innen) verursacht (zerronnen)

Andere Personen und äußere Umstände können Zeit wegnehmen, wobei dies als Eingriff bemerkt wird, aber es nicht möglich ist, dies rasch loszuwerden, oder unbemerkt geschieht, indem jemand in etwas hineingezogen wird und dies (zumindest zunächst) als Zeitverschwendung auffällt.

Die drei Formen sind eine Klimax (Steigerung) in Bezug auf den Gesichtspunkt, wie sehr der Zeitverlust in der eigenen Verfügungsmacht der Person selbst steht.

Die letzte Form, bei der Nachlässigkeit/Gedankenlosigkeit die Ursache ist, wird als schändlichste beurteilt.

Seneca versteht die Lebenszeit als begrenzte Zeitspanne. Der Tod ist Ende des Lebensweges. Den Ablauf des Lebensweges, der sich auf den Tod zubewegt, versteht Seneca gewissermaßen als Sterben. Der Tod findet so graduell statt, indem die Zeit, die ein Mensch gelebt hat, nicht mehr eine Zeit ist, die er lebt und über deren Nutzung er entscheiden kann. Die bereits gelebte Zeit, die Vergangenheit, ist in diesem Sinn nunmehr Eigentum des Todes.


flowerpower203 
Beitragsersteller
 13.06.2021, 15:33

Vielen Dank, jetzt verstehe ich es!! :D

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