Emilia Galotti Warum kann man Im ersten Aufzug Auftritt acht weglassen und Auftritt vier nicht?

2 Antworten

Hallo Haticenb03,

Ich fasse hier zusammen, was ich vor ein paar Jahren hier zu Lessing und Emilia Galotti geschrieben habe, damit kannst du deinen Lehrer belehren:

In diesem Stück ist es klar, dass Lessing mit dem Tugendbegriff Odoardos und der Erziehungsstratagie Claudias abrechnet, ddie die Tochter in den Tod führt.

Grob gesagt: Es gibt im 18. Jahrhundert eine konservative Aufklärung, die eine bürgerliche Tugend mit der Religion verbindet. Sie ist nicht besonders kritisch (etwa Gellert).

Und es gibt eine kritische Aufklärung, für die Vernunft (dynamisch verstanden) viel wichtiger ist als Dogmen, die ja jede Reflexion ausblenden. Das ist die Position Lessings.

Für ihn ist die Suche nach der Wahrheit wichtiger als die Wahrheit selbst, die immer wieder im Dogmatischen erstarrt, und jede Zeit soll zu der ihr gemäßen Wahrheit finden (dynamische Auffassung von der Vernunft).

Es gehört daher zu Lessings Poetik, dass er in seinen Werken nie direkt ausspricht, wie der Text verstanden werden soll. Das Eigentliche, das, worauf es im Endeffekt ankommt, wird ausgespart. Der Leser/Zuschauer soll selbst reflektierend darauf kommen.

Man kann hier Emilia Galotti mit dem Prinzip von Lessings Fabeln durchaus parallelisieren: in beiden Fällen bezieht er sich auf eine antike Quelle, die ihre Wahrheit eindeutig formuliert. Lessing dagegen baut seine Texte so auf, dass die zeitgemäße Wahrheit ausgespart wird, damit die Leser durch Gebrauch ihrer Vernunft sie aus dem Text herauslesen.

Deshalb deine Probleme (und offenbar die deines Lehrers) mit Emilia Galotti. Aus dem bisher Gesagten erhellt, dass der starre Tugendbegriff Odoardos überhaupt keine Lösung und damit auch kein nachahmenswertes Beispiel sein kann – schließlich tötet er die Tochter (ein getarnter Selbstmord, da Emilia es so "will" und den schwachen Vater dazu verleitet), weil auch er der Meinung ist, dass der Tod besser ist als moralische Schande.

Emilia selbst kann nur in ihr Verderben rennen, weil sie hin- und her gerissen ist zwischen den starren moralischen Vorstellungen des Vaters und dem sozialen Ehrgeiz der Mutter, die ihre Tochter in diesem Sinne instrumentalisiert hat.

Die verborgene Moral steckt gerade in I, 8, wo Lessing zeigt, wie man als Aufklärer mit Dogmatismus bzw. Tyrannei umgehen soll, die sich ja grundsätzlich über Vernunftgründe hinwegsetzen: durch eine List (eine fromme Lüge, wenn man so will) gelingt es Rota, einem unbedachten Todesurteil abzuwehren. Diese List ist gar nicht selbstverständlich: der Prinz ist so unberechbar und leidenschafthörig, dass er auf Rotas Vorwand, er habe das zu unterschreibende Urteil nicht dabei, durchaus negativ reagieren könnte.

Im Namen Rota steckt das Wort "Rat" - auch das macht indirekt deutlich, dass diese scheinbar nebensächliche Figur in Wahrheit eine entscheidende Rolle spielt, ganz im Sinne von Lessings Poetik.

Wer hat dir denn gesagt, man könnte diese Szene (I, 8) weglassen??

Hoffentlich doch nicht dein Deutschlehrer??

Gerade diese Szene ist unverzichtbar, wenn man weiss, wie Sinnfindung bei Lessing "funktioniert".

Aber darüber gibt es, so viel ich weiss, nur eine veröffentlichte Studie, und sie ist leider nicht auf Deutsch.


Haticenb03 
Beitragsersteller
 21.03.2020, 17:38

Mein Deutschlehrer hat es gesagt

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achwiegutdass  21.03.2020, 17:40
@Haticenb03

Hätt ich fast gewettet (s. meine Antwort). Der hat überhaupt keine Ahnung, hat nie darüber nachgedacht, wie Lessings eigenen Poetik funktioniert, und folglich hat er Emilia Galotti sicher auch gar nicht verstanden.

Kannst du ihm ruhig von mir sagen.

Schade, dass es immer wieder solche Lehrer gibt.

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