[Chemie] Chemische Reaktionen: exergon, endergon?

2 Antworten

Vom Beitragsersteller als hilfreich ausgezeichnet

Das erste stimmt ja schon mal. Das Beispiel ist etwas unglücklich, weil du die chemische Reaktion (Bildung/Zerlegung eines Hexaaquakupfer(II)-Komplexes) nicht nachvollziehen kannst... aber, ja.

Zweitens: Nimm statt Triebkraft "Antrieb", oder Freiwilligkeit. Eine exoenergetische Reaktion läuft freiwillig ab. Hin zu den Produkten natürlich, denn die entstehen ja. Ansonsten wäre es sinnlos. Edukte reagieren zu Produkten. Das mit der Freiwilligkeit gilt nicht uneingeschränkt, da es die Entropie außer acht lässt.

Drittens: Hier kommt die Entropie zum Tragen, die man als "Antrieb zur Unordnung" sehen kann. Das spielt in vielen chemischen Reaktionen gegenübe der reinen Wärmeenergie keine Rolle, aber z.B. beim Verdunsten von Wasser. Der Drang zur Unordnung ist so groß, dass dieser (an sich Energiezufuhr erfordernde) Vorgang freiwillig abläuft.

Um die "Freiwilligkeit" zu berechnen, muss man den Wärmeumsatz und die Änderung der Entropie gegeneinander aufrechnen, das geschieht in der Gibbs-Helmholtz-Gleichung. Kennst du die?

Woher ich das weiß:Berufserfahrung – Lehrer für u.a. Chemie

maennlich2002 
Beitragsersteller
 16.11.2024, 16:18

„Bei manchen Reaktionen ist die Rückreaktion kaum bemerkbar, hier liegt das Gleichgewicht also stark auf Seite der Produkte.“

Wieso liegt in diesem Fall das Gleichgewicht stark auf Seite der Produkte?

maennlich2002 
Beitragsersteller
 12.11.2024, 19:40
Drittens: Hier kommt die Entropie zum Tragen, die man als "Antrieb zur Unordnung" sehen kann. Das spielt in vielen chemischen Reaktionen gegenübe der reinen Wärmeenergie keine Rolle, aber z.B. beim Verdunsten von Wasser. Der Drang zur Unordnung ist so groß, dass dieser (an sich Energiezufuhr erfordernde) Vorgang freiwillig abläuft.

Aber was bedeutet bei drittens die Anhäufung des Produkts? Das verstehe ich immer noch nicht? Was ist die Anhäufung des Produkts? Und warum führt die Anhäufung des Produkts zu einer Ordnung im System? Eine höhere Entropie führt doch zu einer höheren Unordnung? Aber wieso steht bei drittens allgemein geschrieben, dass es bei geschlossenen Systemen zu einer Anhäufung des Produkts kommt, was zu einer Ordnung im System führt? Entropie kann ja nicht verschwinden sondern nur entstehen. Und wenn Entropie sich anhäuft dann wird die Unordnung ja größer. Aber bei drittens steht, dass es bei geschlossenen Systemen zu einer Anhäufung des Produkts kommt, was zu einer Ordnung führt.

botanicus  12.11.2024, 19:45
@maennlich2002

Ich denke mal, eine hohe Produktkonzentration ist schon eine Art Ordnung. Und in geschlossenen Sytemen kann kein Reaktionspartner entweichen.

maennlich2002 
Beitragsersteller
 12.11.2024, 10:06

Sehr hilfreich 🤩

Ja, die Gibbs-Helmholtz-Gleichung kenne ich 👍

ΔG = ΔH – T * ΔS

„ΔG wird als Gibb‘sche Energie / Gibbs‘ freie Energie / freie Enthalpie bezeichnet. Sie ist die Triebkraft einer Reaktion“

Statt Triebkraft kann man also hier auch das Wort „Antrieb“ oder „Freiwilligkeit“ verwenden, wie du sagtest.

ΔG < 0: Die Reaktion läuft spontan und freiwillig ab, dies nennt man exergon. Hier führt die Reaktion zu einem energetisch günstigeren Zustand.

ΔG > 0: Die Reaktion läuft nicht freiwillig ab, muss unter Energiezufuhr erzwungen werden, dies bezeichnet man als endergon. Hier führt die Reaktion zu einem energetisch ungünstigeren Zustand.

Ich hole mal etwas aus.

In der Vorstellung und anfangs in der Schule werden einfache chemische Reaktionen behandelt, bei denen sämtliche Edukte (Ausgangsstoffe) vollständig in Produkte umgewandelt werden. Das ist in der Praxis auch tatsächlich bei einigen wenigen Reaktionen der Fall. Meistens sind das Verbrennungsreaktionen, wie z.B. die Verbrennung von Benzin mit Sauerstoff. Wenn genügend Sauerstoff vorhanden ist, wird das Benzin vollständig verbrannt. In den Abgasen findet sich kein Benzin mehr. Es gibt auch keine Rückreaktion, dass sich ein Teil des Wasserdampfes und des CO2 wieder zurück in Benzin verwandelt. Das ist aber wie gesagt nur bei wenigen speziellen chemischen Reaktionen so.

Tatsächlich ist es bei den meisten Reaktionen, insbesondere in der organischen Chemie und ganz besonders bei der Chemie im menschlichen Körper so, dass die Reaktionen eben nicht so einfach und vollständig ablaufen. Fast immer gibt es auch Rückreaktionen. Ein Beispiel dafür wäre die Synthese von komplexen Eisweißmolekülen. Ein Teil der synthetisierten Moleküle fällt wieder ganz von alleine auseinander. Das wäre dann die Rückreaktion. Auch bei vielen anorganischen Reaktionen ist es so, dass nie alle Edukte verschwinden, sondern wenn sich nach einiger Zeit ein Gleichgewicht eingestellt hat, sich zwar jede Menge Produkte im Reaktionsgefäß befinden, aber immer auch noch einige Edukte, die partout nicht verschwinden wollen. Bei der Hinreaktion mag Wärme freiwerden (exotherm), aber diese Wärme sorgt dann gleich wieder dafür, dass bei einigen wenigen Molekülen eine endotherme Rückreaktion stattfinden kann und das Produkt wieder in seine Edukte zerfällt. Ganz besonders bei sehr komplexen Reaktionen, bei denen es viele Edukte und auch viele Produkte gibt, stellt sich als Gleichgewicht eine bunte Mischung der einzelnen Stoffe ein.

Nun hatten wir ja schon erörtert, dass man Energie nicht nur nach ihrer Menge betrachten darf. Das würden wir tun, wenn wir nur die Enthalpie betrachten und ob eine Reaktion endotherm oder exotherm verläuft. Man muss auch die Qualität der Energie betrachten, die sich nach ihrer Umwandelbarkeit in andere Energieformen bemisst. Um diese Qualität bemessen zu können gibt es die Entropie. Nun kommen wir auch schon zu einem der wichtigsten oder gar dem wichtigsten Naturgesetz im gesamten Universum und das ist der 2. Hauptsatz der Thermodynamik. Der sagt aus, dass alles danach strebt, den Zustand maximaler Entropie einzunehmen und das ganz gerne auch freiwillig macht. Einmal erzeugte Entropie kann nie wieder vernichtet werden, sie kann höchstens ans Universum abgegeben werden, welches dadurch dem sogenannten Wärmetod zustrebt. Aber keine Angst, wenn die Entropieproduktion im Universum mit dem jetzigen Tempo weitergeht, kann das Universum noch viele Billionen bis Quadrillionen Jahre existieren, bis der Wärmetod eintritt, weil sämtliche wertvolle Energie und Materie in Wärme umgewandelt wurde. Dieses Bestreben der maximalen Entropieproduktion ist ohne Ausnahme überall im Universum und auch in unserem Alltagsleben die Triebfeder für fast alle Vorgänge, angefangen von bestimmten chemischen Reaktionen, über die Entstehung von Leben und Zivilisationen bis hin zur Umweltverschmutzung oder der Vermüllung und Chaotisierung des eigenen Zimmers.

Die im Text erwähnte Triebkraft ist der 2. HS bzw. das Prinzip der maximalen Entropie.

Nun hatte Herrmann von Helmholtz das große Verdienst, den 1. HS der Thermodynamik, also den Energieerhaltungssatz in seiner heute gültigen Version zu formulieren. Er hatte aber auch das Prinzip der 1835 von Sadi Carnot entdeckten Qualität von Energie erkannt und hat basierend darauf und basierend auf den Erkenntnissen Gibbs’ das Prinzip der Energieerhaltung und das Prinzip der Entropieproduktion in der Gibbs-Helmholzgleichung zusammengefasst. Die berücksichtigt, dass zum einen exotherme Reaktionen leichter ohne äupere Energiezufuhr ablaufen als endotherme, dass aber das nicht alleine maßgebend ist, sondern ebenfalls die Entropie berücksichtigt werden muss.

Die maximale Entropie liegt bei chemischen Reaktion aber nicht unbedingt dort, wo 100 % der Edukte vollständig in Produkte umgewandelt wurden, sondern in der Regel nur in der Nähe von 100 % Produkten. Dabei spielt die Ordnung (= Molekülstruktur) und die Standardbildungsentropie der einzelnen Komponenten eine Rolle. Die maximale Entropie haben wir dann häufig in einer Mischung aus vielen Produkten mit einigen wenigen Edukten.

Mit geeigneten Rechenoperationen, die sowohl die Stöchiometrie als auch die Entropie berücksichtigen (durch die Gibbs-Helmholtz-Gleichung zum Beispiel) kann man bei einer bestimmten Reaktion den Gleichgewichtszustand mit der maximalen Entropie berechnen und dabei herauskriegen, wo dieser Gleichgewichtszustand liegt, ob näher bei den Edukten oder näher bei den Produkten.

Liegt der Gleichgewichtszustand nahe der Edukte, muss man in der Regel ordentlich Energie zuführen und Entropie abführen, um Produkte zu erhalten. Dann nennt man die Reaktion endergon. Liegt das Gleichgewicht nahe der Produkte, nennt man die Reaktion exergon.

Da die Entropie der einzelnen beteiligten Stoffe (Edukte und Produkte) von ihrer Temperatur abhängt, das aber für jeden Stoff unterschiedlich, stellen sich je nach Temperatur und Druck unterschiedlich Gleichgewichtszustände ein. Der Chemiker muss also eine Funktion aufstellen als Gesamtentropie in Abhängigkeit von Temperatur und Druck. Von dieser Funktion muss er das Maximum (1. Ableitung = 0) der Entropie errechnen. Dann muss er weiterrechnen und ermitteln, bei welcher Temperatur und Druck dieses Maximum möglichst weit bei den Produkten liegt. So wird die chemische Reaktion dann in der Praxis optimiert.

So, ich hoffe, ich konnte ein bischen zur Erhellung beitragen und damit auch die meisten Fragen beantworten.

Ansonsten…..“wer nicht fragt bleibt dumm“ (Zitat Sesamstraße)

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Habe Thermodynamik im Hauptfach studiert.