Bedingt der Naturalismus ein materielles Weltbild?

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Naturalismus bedingt nicht logisch zwingend ein materielles Weltbild, also einen Materialismus.

Es kommt darauf an, was mit »Natur« und »natürlich« gemeint ist und wie die Abgrenzung zu dem, was als nicht natürlich bzw. übernatürlich gilt, vorgenommen wird.

Aus Naturalismus ergibt sich dann ein Materialismus, wenn die Auffassung vertreten wird, die Natur enthalte ausschließlich materielle Dinge. Dies ist beim eliminativen Materialismus (was als als nicht- materielle Phänomene bezeichnet wird, gibt es tatsächlich gar nicht, ist nur sprachliche Irreführung und leere Einbildung/Illusion) und beim reduktionistischen Materialismus (was als als nicht- materielle Phänomene bezeichnet wird, gibt es als Phänomene, aber ist restlos auf Materielles zurückführbar) der Fall. Es ist aber auch die Auffassung möglich, auch immaterielle Dinge gehörten zur Natur und seien auf natürliche Weise erklärbar.

Naturalismus und Materialismus sind nicht immer gekoppelt und notwendig miteinander verbunden. In der Praxis wird aber von einem Naturalismus meistens ein materialistischer bzw. physikalistischer Standpunkt vertreten, besonders seit dem 20. Jahrhundert.

Naturalismus kann nach Gesichtspunkten unterteilt werden. Beim metaphysischen bzw. ontologischen Naturalismus im weitgehenden Standpunkt »starker Naturalismus« handelt es sich um Materialismus bzw. Physikalismus.

Naturalismus bezeichnet in der Philosophie die Auffassung, dass die Natur Grundlage von allem ist, was es gibt, und nur eine natürliche Erklärung der Beschaffenheit der Welt zuverlässig und mit Anspruch auf Wahrheit möglich ist.

Naturalismus kann mehr oder weniger weitgehend sein. Dies hängt vor allem davon ab, was unter »Natur« und »natürlich« genau verstanden wird. Insbesondere wenn der Hinweis auf »Natur« und »natürlich« auf die Naturwissenschaften und ihre Methoden zielt, kann gemeint sein, nur naturwissenschaftliche Forschung vermittle einen Zugang zur Wahrheit, dazu, wie die Welt beschaffen ist. Dann ist der vertretene Standpunkt oft ein Materialismus bzw. (wenn die Möglichkeit einer Umwandlung von Materie in Energie und umgekehrt berücksichtigt wird; beides sind physikalische Größen) Physikalismus.

Dies ist der weitgehende Standpunkt bei einem metaphysischen bzw. ontologischen Naturalismus.

ontologischer Naturalismus: Alle Entitäten (Wesenheiten, Seiendes; also Einzeldinge, Eigenschaften, Tatsachen und Ereignisse der ganzen Welt) haben ihren Ursprung in der Natur und sind natürliche Entitäten. Es existiert also nichts jenseits der natürlichen Realität, über sie hinaus.

Naturalismus wendet sich auf jede Fall gegen Supranaturalismus. Denn er lehnt die Existenz von Übernatürlichem (z. B. in die Welt eingreifender Gott, Wunderereignisse, übersinnliche Erfahrung und Offenbarung) ab.

Naturalismus kann sich auf verschiedene Gesichtspunkt beziehen, z. B. auf die Ontologie (Seinslehre) als ontologische Naturalismus und auf die Epistemologie (Erkenntnislehre/Erkenntnistheorie) als epistemologischer Naturalismus. Die genauen Definitionen und Unterteilungen sind unterschiedlich. Oft wird ein methodologischer Naturalismus genannt, der sich darauf bezieht, mit welchen Methoden Wissen zuverlässig möglich ist. Praktisch ist dies weitgehend etwas, was auch manchmal epistemologischer Naturalismus genannt wird.

Geschichtlich ist im Zeitalter der Aufklärung der Deismus (Standpunkt, es existiere Gott/ein göttliches Wesen/etwas Göttliches und die Welt sei eine göttliche Schöpfung, aber in der geschaffene Welt gehe es natürlich zu) eine Richtung gewesen, die naturalistisch, aber nicht notwendig materialistisch war.

Denkbar sind Auffassungen, die Natur enthalte auch immaterielle Dinge und diese seien natürlich erklärbar. In der Gegenwart neigen diese vielleicht nicht dazu, sich als Naturalismus bezeichnen (unter anderem, weil ein Aufruf zur Naturalisierung gewöhnlich als Erklärung aller Phänomene mit einer Zurückführung auf Materielles/Physisches gemeint ist). Sie verstehen sich aber nicht als Supranaturalismus. Beispiele sind der Eigenschaftsdualismus, der Mentalismus (es gibt mentale Vorgänge und Zustände, die eine eigenständige Bedeutung haben und nicht restlos auf Materielles/Physisches zurückgeführt und dadurch ersetzt werden können), die Drei-Welten-Theorie von Karl Popper (Welt 1: physische Welt; Welt 2: Welt der individuellen Wahrnehmung und des Bewußtseins; Welt 3: Welt der geistigen und kulturellen Gehalte, die vom Einzelbewußtsein unabhängig existieren können) und der neutrale Monismus (es gibt etwas umfassendes Grundlegendes, das entweder weder materieller noch mentaler Natur ist oder in dem beides gleicherweise angelegt ist).

Günther Gawlick, Naturalismus. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 6: Mo – O. Basel ; Stuttgart : Schwabe, 1984, Spalte 517:

„Naturalismus kann seit dem Beginn des 17. Jh. jede Lehre heißen, die in irgendeiner Form die ‘Naturʼ zum Grund und zur Norm aller Erscheinungen, auch in der Geschichte, Kultur, Moral und Kunst, erklärt. Je nach der dominierenden Bedeutungsnuance des Wortes ‹Natur› ergeben sich verschiedene Varianten des N., die zumeist nicht genau definiert, sondern nur vage umschrieben sind.“

Jh. = Jahrhundert

N. = Naturalismus

„Insofern der N. die spekulative Metaphysik ablehnt und den empirischen Charakter aller menschlichen Erkenntnis betont, berührt er sich mit dem Sensualismus und Materialismus des 17. und 18. Jh. sowie mit dem Positivismus und Pragmatismus des 19. und 20. Jh., ist aber nicht mit ihnen identisch.“

Thomas Grundmann, Naturalismus. In: Metzler Philosophie Lexikon. Begriffe und Definitionen. 3., erweiterte und aktualisierte Auflage. Herausgegeben von Peter Prechtl und Franz P. Burkard. Metzler : Stuttgart ; Weimar, 2008, S. 403:

Naturalismus

philosophische Position des 20. Jh., wonach verlässliche Erkenntnisse darüber, was existiert und wie die Welt beschaffen ist, nur auf naturwissenschaftlichem Wege zu gewinnen sind. Gründe für den N. sind die Erfolge der modernen Naturwissenschaften und ein Interesse an einem einheitlichen Weltbild. Der N. ist eine zeitgemäße Version des ↗ Materialismus und steht dem ↗ Physikalismus sehr nahe, ist allerdings auch mit einem naturwissenschaftlichen Pluralismus vereinbar. – Man kann zwischen einer ontologischen, einer semantischen und einer methodologischen These des N. unterscheiden. (1) Die ontologische These (auch Identitätstheorie) besagt, dass nur natürliche, d.h. naturwissenschaftlich akzeptable, Entitäten existieren. Sie beschränkt sich entweder – in der schwächeren Version (Materialismus) – auf Einzeldinge, oder sie bezieht sich – in der stärkeren Version – auch auf Eigenschaften. (2) Die semantische These (auch ↗ Reduktionismus) besagt, dass nur Beschreibungen, die sich auf ein naturwissenschaftliches Vokabular reduzieren lassen, wahr sein können. Je nachdem, ob die Reduktion durch empirische Forschung oder durch logische Analyse der Bedeutung erreicht werden soll, spricht man von einem empirischen oder einem logischen Reduktionismus. (3) Die methodologische These (auch Szientismus) besagt, dass nur naturwissenschaftliche Methoden zuverlässig sind. Sie leugnet, dass es eigenständige philosophische oder geisteswissenschaftliche Methoden der Erkenntnisgewinnung gibt.“

N. = Naturalismus

d. h. = das heißt