Aristoteles Vernunft

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Zu einem richtigen Verstehen fehlt noch einiges. In der Darlegung sind Unklarheiten, Ungenauigkeiten und Fehler enthalten.

Zum Teil ist für ein besseres Verstehen günstig, Auffassungen heranzuziehen, die Aristoteles im Bereich von Ethik und Seelenlehre (Psychologie) hat. Hauptwerke dafür sind Aristoteles, Ἠθικὰ Νικομάχεια (Nikomachische Ethik; lateinisch: Ethica Nicomachea) und Aristoteles, Περὶ ψυχῆς (Über die Seele; lateinisch: De anima).

1) Teile bzw. Ebenen

Die Seele versteht Aristoteles als die erste Entelechie (Verwirklichung/Erfüllung/Vollendung) eines natürlichen, der Möglichkeit nach Leben habenden, mit Organen versehenen Körpers (ψυχή ἐστιν ἐντελέχεια ἡ πρώτη σώματος φυσικοῦ δυνάμει ζωὴν ἔχοντος Aristoteles, Über die Seele 2, 1, 412 a 31 – 32; ἐντελέχεια ἡ πρώτη σώματος φυσικοῦ ὀργανικοῦ Aristoteles, Über die Seele 2, 1, 412 b 5 - 6).

Der Körper/Leib ist der Möglichkeit nach (δυνάμει), was aus ihm in Verbindung mit der Seele wird. Als Verwirklichung (Aktualität) des Körpers ist die Seele dessen (wesensmäßige) Form, Zweck, Bewegungs- und Lebensprinzip.

Aristoteles nimmt eine Stufung von Seelenkräften an:

a) nährende/nährfähige (vegetative) Seele (θρεπτικὴ ψυχή), zuständig für Ernährung/Stoffwechsel, Wachstum, Fortpflanzung (sie haben alle Lebewesen, einschließlich der Pflanzen)

b) wahrnehmende (sensorische/sensitive) Seele (αἰσθητικὴ ψυχή), zuständig für Sinneswahrnehmung, verbunden mit Empfinden (sie haben Tiere)

c) denkende (rationale) Seele (νοητικὴ ψυχή), zuständig für das Denken (sie haben Menschen)

Der Geist (νοῦς) ist ein Vermögen in der Seele, das Denkvermögen (νόησις). Der Geist kann sowohl rezeptiv/aufnehmend/passiv/erleidend als auch spontan/aktiv/wirkend/tätig sein.

Zum Geist/Logos (λόγος) gehören Vernunft (νοῦς [nous]; lateinisch gewöhnlich mit intellectus wiedergegeben) und Verstand (διάνοια, lateinisch gewöhnlich mit ratio wiedergegeben). Die Vernunft ist für Aristoteles das Wertvollere und das oberste Erkenntnisvermögen (ihm kommt die Leitung zu).

Aristoteles unterscheidet (Nikomachische Ethik 1, 13, 1102 a – 1103 a) grob zwischen einem Teil der Seele, der Vernunft hat (das Vernunft/Logos habende: τὸ λόγον ἔχον), und einem, der nicht Vernunft hat (das ohne Logos/das Vernunftlose: τὸ ἄλογον). Wenn dies bildlich mit Ebenen ausgedrückt wird, sind dies eine rationale und eine nicht-rationale Ebene.

Der nicht- rationale Teil kann noch einmal unterteilt werden: Das Vegetative (τὸ φυτικόν), das keinen Anteil an der Vernunft hat, und etwas, das auf die Vernunft hören kann, das Begehrende und insgesamt das Erstrebende (τὸ δ᾽ ἐπιθυμητικὸν καὶ ὅλως ὀρεκτικὸν).

Orexis (ὄρεξις), Streben/Verlangen/Begehren, ist nach Aristoteles eine allgemeine Bewegungsart der Lebewesen. Beim Streben können Begierde (ἐπιθυμία), Mut/Eifer (θυμός) und Wunsch/mit Überlegung/Sich-Beratschlagen verbundener Wille(βούλησις) unterschieden werden (Aristoteles, Über die Seele 2, 3, 414 b).

Beim Menschen kann das Streben vernunftgelenkt oder nicht vernunftgelenkt sein. Wo die Wahrnehmung entscheidet, lebt der Mensch nach Leidenschaft und strebt nach dem scheinbar Guten, der Begierde und dem Affekt unterworfen. Wenn der Mensch der Vernunft folgt, strebt er nach dem schlichten und zugleich wahrhaft Guten. Andere Antriebskräfte werden nicht beseitigt, wohl aber gelenkt.

2) Glückseligkeit

Aristoteles ist der Auffassung, ein so großes Gut wie das Glück/die Glückseligkeit (εὐδαιμονία) könne nur durch ein Tätigsein erreicht werden, indem Fähigkeiten und angelegte Möglichkeiten entfaltet werden. Die Entfaltung ist etwas, das Freude bereitet und zu einem guten, erfüllten Leben beiträgt.

Als das dem Menschen eigentümliche Werk (das, wozu er speziell bestimmt ist) versteht Aristoteles die mit Vernunft verbundene Tätigkeit der Seele und ein entsprechendes Handeln. Das menschliche Gut ist nach ihm der Vortrefflichkeit/Tugend (ἀρετή) gemäße Tätigkeit der Seele bzw. (wenn es mehrere Vortrefflichkeiten gibt) der besten und vollkommensten Vortrefflichkeit/Tugend entsprechende Tätigkeit (Nikomachische Ethik 1, 6, 1098 a).


raubkaetzchen 
Beitragsersteller
 24.11.2012, 12:03

Wow, Danke!!

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Albrecht  24.11.2012, 02:25

Ich empfehle eine sorgfältige Lektüre von Textstellen und ein Heranziehen von Büchern aus einer Bibliothek, z. B.:

Aristoteles, Poetik. Übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt. Berlin : Akademie-Verlag, 2008 (Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung. Begründet von Ernst Grumach, herausgegeben von Hellmut Flashar ; Band 5), besonders S. 324 – 360 (Kommentar zum 6. Kapitel)

S. 9: „Durch Mitleid und Furcht bewirkt sie eine Reinigung eben dieser Gefühle.“

Deutung: Aristoteles spricht einen Beitrag der Tragödie zu einer Kultur des Gefühls an, eine Ausbildung einer Gefühlssicherheit bei der Unterscheidung zwischen dem, was wirklich bedrohlich, wirklich bemitleidenswert ist und Formen der Gefahr und des Unglücks, die ein tiefes Gefühlsengagement nicht verdienen.

Aristoteles: Poetik. Herausgegeben von Otfried Höffe. Berlin : Akademieverlag, 2009(Klassiker auslegen ; Band 38). ISBN 978-3-05-004452-1

Aristoteles-Handbuch : Leben – Werk – Wirkung. Herausgegeben von Christof Rapp und Klaus Corcilius. Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2011. ISBN 978-3-476-02190-8

Hellmut Flashar, Aristoteles. In: Ältere Akademie, Aristoteles, Peripatos (Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begründet von Friedrich Ueberweg. Völlig neu bearbeitete Ausgabe. Herausgegeben von Helmut Holzhey. Die Philosophie der Antike - Band 3). Herausgegeben von Hellmut Flashar. Völlig neu bearbeitete Ausgabe. Basel ; Stuttgart : Schwabe, 2004, S. 167 – 492

Otfried Höffe, Aristoteles. 3., überarbeitete Auflage, Originalausgabe. München : Beck, 2006 (Beck'sche Reihe : Denker ; 535), S. 13 7 – 142 und S. 196 – 237

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Albrecht  24.11.2012, 02:24

3) Vernunft und Gefühle

Das, was modern als Denken, Fühlen und Wollen bezeichnet wird, ist im Innenleben eng verbunden. Gefühle können als Begleiterscheinungen von Erkennen auftreten. Gefühle haben einen kognitiven Anteil (Gefühle/Affekte sind Ausdrucks eines vorgenommen unterscheidenden Erfassens und Zusammensetzens). Aristoteles will nicht Gefühle allgemein als der Vernunft hinderlich unterdrücken/ausschalten/unterbinden. Entscheidend ist, ob das Denken falsch oder richtig ist. Eine Fixierung/Blickverengung des geistigen Horizonts auf einen Anschein und nur einzelne Gesichtspunkte, kann das führen, irrig auf ein nur scheinbar Gutes aus zu sein. Vernunft/Verstand sind dabei in einem gebundenen, gefesselten, unfreien Zustand, ohne geistige Beweglichkeit, mit einer rein instrumentellen dienenden Rolle. Die Vernunft hat nicht die Leitung. Wahrnehmung oder Meinung beeinflussen hauptsächlich. Begehren bzw. Sichereifern haben die Vorherrschaft. In diesem Fall können Gefühle/Emotionen/Leidenschaften/Affekte zum Falschen/Schlechten fortreißen.Aristoteles geht es in seiner Ethik um eine Entwicklung der in einer Situation angemessenen Gefühle/Affekte.

Einen Zustand der Erleidenslosigkeit (ἀπάθεια) strebten die Stoiker an. Er wird nach stoischer Lehre durch Leidenschaftslosigkeit erreicht, eine seelische Verfassung, die gegen das Erleiden einer Gemütsbewegung unempfänglich macht. Die Gleichgültigkeit bezieht sich auf nicht Verfügbares. Die Stoiker hielten die meisten Gefühle für Abirrungen, beruhend auf irrigen Meinungen. Affekte stören nach ihnen die Seelenruhe und sind ein Hindernis für das glückliche Leben.

Wie eine Erwartung, die dann meist enttäuscht wird und ein Lernen, Unerwartetes zu akzeptieren, in die Darstellung kommen, kann ich nicht nachvollziehen. Die Deutung geht an dieser Stelle der Fragebeschreibung in Richtung stoische Ethik, die jedoch der von Aristoteles in Bezug auf Gefühlen/Affekte vertretenen Ethik in manchen Punkten eher entgegengesetzt ist.

4) Katharsis (Reinigung) der Gefühle/Affekte

Die Tragödie gab es schon vor Aristoteles. Er hat sie nicht als Neuheit eingeführt. Aristoteles spricht ihr eine Rolle in einem ethischen Zusammenhang zu. Das Publikum kann an den Hauptpersonen der Tragödie Anteil nehmen. Die Tragödie ist eine Nachahmung einer Handlung mit Personen, die einen bestimmten Charakter haben. Diese geraten in Gefahr, ihr Handlungsziel zu verfehlen/nicht zu treffen. Mitleid und Furcht bewirkt sie eine Reinigung eben dieser Gefühle. Diese wollen im großen Ganzen Gutes, haben aber Schwächen, die sie für einen Fehler/eine Verfehlung (ἁμαρτία [hamartia]) anfällig machen. Sie stürzen so ins Unglück oder drohen ein schlimmes Schicksal zu erleiden. Das Ausmaß des tatsächlichen oder zumindest drohenden Unglücks erscheint im Verhältnis dessen, was die Person aufgrund eigener Zurechenbarkeit verdient hat, unverhältnismäßig groß. Beim Publikum kann durch Mitleid (ἐλεός) und Furcht (φόβος) eine Katharsis (κάθαρσις) bewirkt werden.

Die Aussage zur Katharsis steht bei Aristoteles, Poetik (Περὶ ποιητικῆς; Über Dichtkunst; lateinisch: De arte poetica) 6, 1449 b 21 – 31.

Die Deutung ist nicht ganz einfach und in der Forschung zum Teil umstritten. Der Genetiv bei τὴν τῶν τοιούτων παθημάτων κάθαρσιν kann als Genetivus subjectivus (Reinigung durch der Affekte) oder Genitivus objectivus (Reinigung der Affekte) oder Genetivus separativus (Reinigung von den Affekten) verstanden werden.

Die Auffassung als Genitivus objektivus kann gut in die Ethik eingeordnet werden und daher eine ziemlich starke Plausibilität in Anspruch nehmen. Es geht Aristoteles um den richtigen Umgang mit Gefühlen/Affekten (παθήματα; Singular: πάθημα), nicht um ihre Auslöschung/Beseitigung. Unter anderem soll das Mittlere in den Affekten gefunden werden, wobei es um die richtige Mitte geht, die nicht Mittelmäßigkeit bedeutet, sondern unter dem Gesichtspunkt des Wertes ein Höchstmaß ist und daher je nach Situation auch in bestimmten starken (nicht nur lauen) Gefühlen bestehen kann. Aristoteles zielt darauf, sich angemessene Gefühle/Affekte anzugewöhnen. Dies kann als eine Reinigung, eine Art von Kultivierung/Erziehung angesprochen werden. Das Mittel ist keine abstrakte Belehrung, sondern eine Steigerung des rationalen Moments/Bestandteils der Gefühle/Affekte selbst.

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[...] „Eine Tragödie .... ist die Nachahmung tätiger Menschen, also nicht in Form bloßer Erzählung; und dadurch, dass sie Jammer und Schaudern erregt, bewirkt sie die ihr eigentümliche Reinigung derartiger Affekte...“ – so heißt es in der „Poetik“ des Aristoteles, 6. Kap. Von manchen wird auch übersetzt: „... eine Reinigung von derartigen Affekten bewirkt“. Reinigung bedeutet in beiden Fällen soviel wie Mäßigung von Gefühlszuständen (Affekten, "Trieben"). Das Übermaß an Gefühlen soll beseitigt werden, nicht die Gefühle überhaupt. Einem reinen Vernunftmenschen hat Aristoteles nicht das Wort geredet. Die Tragödie soll dazu beitragen, die Affekte ins rechte Maß zu bringen. Der Mensch muss dieses Maß finden, um Glückseligkeit im Rahmen einer staatlichen Gemeinschaft zu erlangen (ethisches Prinzip der Mitte). Da Glückseligkeit bei Aristoteles nur durch eine Dominanz der Vernunft erreicht werden kann, ist es richtig zu sagen, dass Furcht und Mitleid (wie auch übersetzt wird) als "ungemäßigte" Affektzustände das seelische Gleichgewicht stören und damit auch die Vorherrschaft der Vernunft im Menschen beeinträchtigen; denn ohne das Gleichgewicht der Seele ist eine vernunftbeherrschte Haltung des Menschen nicht denkbar.