Alle Elemente einer Autismusdiagnose?

5 Antworten

erst vor kurzem wurde mir Autismus "nachgewiesen". Der Psychologe sprach mit mir hierzu ca. 15min und mit meiner Mutter 10min. Danach gab es einen online Fragebogen (der erste Link, wenn man nach Autismus sucht).
Das Resultat daraus war für ihn kein Screening. Er nahm es als Diagnose. Weiteres hat er dazu nicht gesagt.

Ich brauche gar nicht erst zu fragen, ob dieser Psychologe auf Autismus spezialisiert war oder nicht, denn ich weiß, dass er das nicht war. Alles an dem Vorgehen strotzt nur so vor Inkompetenz.

Jetzt will ich aber nochmals irgendwo anders es präziser und zuverlässiger diagnostizieren lassen. Ich finde aber immer nur die 3 gleichen Seiten oder 40-seitige PDFs.

Eine sehr gute Entscheidung und auch deine einzige, falls du dir sicher sein möchtest, ob du nun Autismus hast oder nicht.

Es sollte dir möglich sein, übers Internet Neurologen oder auch Psychiater (keine Psychologen!) zu finden, welche "in deiner Nähe" sind und die Fachrichtung Autismus haben. Falls das nicht funktioniert, kannst du sicherlich auch direkt in Autismus-Foren nachfragen.

Jetzt darfst du aber nicht vergessen, dass "in deiner Nähe" auch durchaus bedeuten kann, dass du mit deinen Eltern über eine Stunde Fahrt auf dich nehmen musst - Jenachdem, ob ihr eher in der Stadt oder eher auf dem Dorf wohnt. In Großstädten hat man die besten Chancen.

Wie lange dauernd?

Der Termin? Auf jeden Fall mehrere Stunden. Nicht selten werden sogar mehrere Termine ausgemacht, weil Autismus eben nichts ist, was man nach einem zweistündigen Gespräch direkt diagnostizieren oder ausschließen kann.

Wie lange Wartezeit?

Das können durchaus schon 3 Jahre oder sogar mehr werden. Man kann auch Glück haben und bereits nach 6 Monaten den Ersttermin bekommen, ich würde mich jedoch nicht darauf verlassen. Die waren auch schon vor 14 Jahren überfüllt, als ich meine Diagnose bekam. Heute ist es nur noch schlimmer geworden, wie es scheint. Einige Neurologen/Psychiater haben sogar komplette Aufnahmestopps. Daher wäre es sinnvoll, sich besser früher als später darum zu kümmern.

Welche Elemente gehören dort dazu? Welche körperlichen Untersuchungen und wird Blut abgenommen?

Nein, dir wird dort kein Blut abgenommen. Zum Glück wird das nicht gemacht, sonst hätte ich heute noch immer nicht meine Diagnose ...

Manche Diagnostiker machen einen IQ-Test. Meistens den WPPSI-III-, den HAWIK-IV- oder den K-ABC-Test. Auch der Raven-Matrizen-Test wird regelmäßig angewendet. Für nichtsprechende Autisten kann auch der SON-R-Test verwendet werden. Aber es ist kein Muss. Man sollte sich also nicht davon abschrecken lassen, wenn kein IQ-Test gemacht wird.

Da du ja bereits 17 bist und mir einiges sagt, dass du sowieso volljährig sein wirst, bis der Ersttermin ansteht, müssen deine Eltern nicht mitkommen. Es wäre trotzdem nicht verkehrt, sie (oder zumindest ein Elternteil bzw. eine mit dir verwandte Person, welche dich bereits dein ganzes Leben lang begleitet) mitzunehmen. Vorausgesetzt, sie stehen bezüglich der Diagnose hinter dir. Denn in den Gesprächen bezüglich deiner Vergangenheit sind auch die ersten drei Jahre nach der Geburt extrem wichtig und ich denke, deine Eltern können sich an diese Zeit besser erinnern, als du. (Oder?)

Genauso können sie eher abschätzen, welches Verhalten ihnen von dir schon immer "seltsam" vorkam und wo du dich von den anderen Babys/Kindern unterschieden hast.

Wenn du sie also mitnehmen kannst, wenn es soweit ist, würde das dem Psychiater/Neurologen bestimmt sehr weiterhelfen. Aber es ist selbstverständlich kein Muss. Das wäre auch bei einigen gar nicht möglich. Wer erst mit 60 Jahren diagnostiziert wird, hat unter Umständen gar keine Eltern mehr zum Mitnehmen.

Aufgrund deines Alters wird das Gespräch - das kann mehrere Stunden dauern - eher als eine Art Interview geführt. Fragebögen wird es auch geben.

Wenn es um sowas wie eine Autismus-Diagnose geht, lautet die Devise: Mehr ist mehr. Je mehr Informationen über dich, deine Gefühlswelt, deine Gedankengänge, dein Verhalten etc. pp, offengelegt werden, umso eher kann eine akkurate Diagnose abgegeben werden. Es wird auch gefragt, wo du schon immer Probleme mit hattest (z.B im Bezug auf der sozialen Ebene oder auch solche Dinge wie exekutive Funktionen oder, oder, oder) und wenn du deine Eltern mitnehmen kannst, wird der Psychiater/Neurologe bestimmt auch gerne mit ihnen reden.

Eine eigene Liste von dir mit all den Dingen, die deiner Meinung nach auf Autismus hindeuten könnten, wäre sehr hilfreich. Das macht dann auch den Anschein, als hätte man sich selbst lange damit auseinandergesetzt.

Einen Mimikerkennungstest gibt es auch, soweit ich weiß. Das werden wahrscheinlich diese total unrealistischen Gesichter sein, die kein Mensch im echten Leben jemals machen würde, aber na ja.

Die Differenzialdiagnostik sollte ebenfalls in die Diagnose mit einfließen. Autistische Züge können ihren Ursprung auch in anderen Störungen/Behinderungen oder sogar in einer Krankheit haben. Man darf jedoch auch nicht vergessen, dass die wenigsten Autisten nur mit Autismus diagnostiziert werden. Einige Diagnosen, die bei der Differenzialdiagnostik benutzt werden können, können auch bei den Komorbiditäten aufkreuzen. Dazu gehören beispielsweise:

  • AD(H)S (Ja, man kann sowohl Autismus, als auch AD(H)S haben - Geschätzt 30-80% der Autisten haben auch AD(H)S)
  • Sozialphobie und/oder andere Angststörungen bzw. andere Phobien
  • Depressionen
  • Schlafstörungen
  • Sensorische Integrationsstörung
  • Epilepsie
  • Dyspraxie
  • Tourette-Syndrom
  • Zwangsstörungen
  • etc.

Alleine aufgrund der Komplexität bezüglich der Differenzialdiagnosen und der Kormobiditäten ist es nur sinnvoll, einen tatsächlich kompetenten Psychiater bzw. Neurologen zu konsultieren. Und aufgrund des Maskings - Das ist fast noch wichtiger.

Es kann sein, dass auch ein EEG oder MRT gemacht wird, aber das ist wohl sehr unterschiedlich. Meiner Meinung nach sollte es gemacht werden, da Autismus eine neurologische Entwicklungs"störung" ist und das Gehirn anders funktioniert etc, allerdings müsste das wohl mit dem entsprechendem Neurologen/Psychiater geklärt werden. Es ist sicherlich nicht der Standard, sagen wir es so. Und soweit ich weiß, wurde es damals bei mir nicht gemacht.

Bei Autismus gibt es den sogenannten "Cut-Off". Bist du drüber, hast du Autismus bzw. bist du Autist/Autistin. Aber du kannst nicht "mehr"/"schwereren" oder "weniger"/"leichteren" Autismus haben, unabhängig davon, wie viele Punkte du nach dem Cut-Off bei dir abhaken kannst. Sagen wir mal, die Punktezahl ginge von 0-50 (nur als Beispiel) und alles über 30 Punkte bedeutet, dass du mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Autismus hast bzw. Autist/Autistin bist. Wenn du nun also beispielsweise 35 Punkte hast, bist du über dem Cut-Off. Ein Autist, der z.B 42 Punkte erreicht, hat nicht mehr/keinen stärkeren Autismus als du.

Der Cut-Off ist allerdings keineswegs perfekt. Das gesamte Diagnoseverfahren bezüglich Autismus ist alles andere als nur annähernd perfekt, aber das ist ja gerade gar nicht das Thema.

Ich hoffe, meine Erklärung konnte dir (oder wem auch immer) irgendwie weiterhelfen.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Ich bin diagnostizierte Autistin (Keine Selbstdiagnose)👽

Moritz381 
Beitragsersteller
 06.12.2022, 00:16

Ne Stunde werde ich mindestens fahren. Die nächste große Stadt ist Heilbronn und selbst diese ist 1h weg.

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Zitruseulchen  06.12.2022, 14:02
@Moritz381

Ja, das kenne ich zu gut. Meine Mutter musste damals auch so circa eineinhalb Stunden mit mir nach Frankfurt fahren für die Diagnose 😵‍💫

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Moritz381 
Beitragsersteller
 06.12.2022, 00:15

Vielen Dank für diese sehr ausführliche und detailreiche Antwort. Damit nimmst du mir einige Arbeit weg und klärst mich über Dinge auf, die ich nach Stunden von Online Recherche nicht herausfand.

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Zitruseulchen  06.12.2022, 14:00
@Moritz381

Awww, gerne doch! Ja, das ist echt eines dieser Themen, bei denen man lange suchen kann ... Und die Wahrscheinlichkeit, dass man an irgendwelche Fehlinformationen gerät, ist ziemlich hoch. Richtig bescheuert.

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Ein Psychologe kann höchstens vermuten. Eine Diagnostik erfolgt bei Psychiatern, die explizit Autismus auf ihrem Klingelschild stehen haben.

Das sind leider immer noch zu wenige in Deutschland.

Statt sämtliche möglichen Symptome aufzuzählen, mache ich es lieber andersherum und frage nach dem, womit du Schwierigkeiten hast.

Eine Blutabnahme erfolgt nicht. Wartezeiten reichen von einem halben Jahr bis zu es werden keine Wartelisten mehr geführt, weil hoffnungslos überfüllt.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – ASS-Diagnose mit 50 / über 20 Jahren im Thema

Keine Ahnung, wie die diagnostischen Kriterien genau sind, aber normal gehören mindestens mehrere Termine dazu, alleine, mit den Eltern und Eltern alleine, ggf. Tests mit Gesichtern, auf IQ, Körpersprache, viele Gespräche, teils auch mit Lehrern. Da sind Fragebögen evtl. Bestandteil.

Seit ihr in einem spezialisierten psychologischen Zentrum oder bei einem "normalen" (Kinder)psychologen?

Ich verstehe, wie belastend das sein muss. Vor allem mit 17.

Wartezeiten für den Psychoonkel oder Therapeuten sind teils über ein Jahr, Blut wird keines abgenommen. Wozu auch? Körperlich sind meines Wissens auch keine CT, MRT, o. ä. sinnvoll oder vorgesehen.

Du kannst dich sonst höchstens an Vertrauenslehrer, Selbsthilfegruppen oder das Jugendamt (ja!) wenden.

Fragen oder mehr Infos/persönliche Erfahrungen gerne per PN.

...oder der Autismus ist "glasklar", was ich aber kaum glaube.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Habe selbst Asperger

Moritz381 
Beitragsersteller
 05.12.2022, 20:00

Keine Bluttests klingt beruhigend. Der Psychologe war nicht auf Autismus spezialisiert. Er thematisert einen mittlegroßen Bereich rund um solche Störung.

Wegen Blut dachte ich vielleicht, dass es genetisch nachweisbar sein könnte.

Auf dem Dorf gibt es keine Selbsthilfegruppen und der Vertrauenslehrer ist ein Lehrer, der sauer auf mich ist, weil er Religion noch unterrichtet und ich mit ihm mal in einer Diskussion kam.

Was genau meint PN?

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ZitrusLiebe  05.12.2022, 20:08
@Moritz381

Psychologen sind anders als Psychiater keine Medizinstudenten, kaum für Organisches zuständig und dürfen zwar Pillen ausgeben, aber Spritzen - ich weiß ja nicht.

Ja, Autismus ist zum Großteil vererbbar. Kann ich leider nur bestätigen. Allerdings sind meine ich hunderte Gene beteiligt.

PN bedeutet Privatnachricht. Nur für den Fall, dass du Erfahrungen brauchst. Wurde bei mir aber schon mit 12 diagnostiziert.

Sonst halt Klassenlehrer, Trainer, die Tante, zu wem Verschwiegenen auch immer du Vertrauen hast. Gibt es Sozialarbeiter bei euch?

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Moritz381 
Beitragsersteller
 05.12.2022, 22:24
@ZitrusLiebe

Der Begriff Sozialarbeiter sagt mir nichts. Ich werde aber jemanden finden. Vielen Dank.

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Für eine Autismusdiagnose wird kein Blut abgenommen und auch keine körperliche Untersuchung gemacht. Wozu auch? Autismus ist keine körperliche Behinderung, man findet keine Auffälligkeiten. Die Untersuchungen kann man sich also sparen.

Es gibt Psychiater und Psychologen, die Abklärungen machen. Am besten wendest du dich da regional an Fachstellen. Allerdings muss ich dich vorwarnen: die Wartezeit ist lange. Das kann auch mal ein-zwei Jahre dauern.

Hey,

ich würde vielleicht einen weiteren Therapeuten/Arzt aufsuchen der sich auf Autismus spezialisiert hat.

Weitere Meinungen sind immer wichtig.

Diese Test online können eine richtige Diagnose nicht ersetzen sondern dienen nur als Hinweis ob man es haben könnte.

Woher ich das weiß:Hobby – Großes Interesse an der Thematik