Fühlst du manchmal noch das Bedürfnis zu glauben? An Ex-Gläubige?
Diese Frage stellte mir kürzlich meine Frau. Ich fand es echt interessant, dass sie mich das nach all den Jahren noch fragt. Unsere Wege, was den Glauben angeht, haben sich ziemlich verändert. Damals haben wir in der Moschee geheiratet, was für uns beide ein riesiger Schritt war, weil das (für uns) die korrekte islamische Art zu Heiraten war. Kurz danach haben wir uns auch standesamtlich trauen lassen, irgendwie fühlte sich das dann "rund" an, als ob das der richtige Weg war. Aber mit der Zeit wurde es für mich immer schwieriger, an das zu glauben, was uns damals so verbunden hat.
Sie konnte das anfangs überhaupt nicht nachvollziehen, und es gab sogar eine Phase, in der sie dachte, wir könnten nicht mehr zusammen bleiben, weil unsere Auffassungen so unterschiedlich wurden. Es war eine echt schwierige Zeit, und sie hat mir damals sogar vorgeschlagen, uns zu trennen. Doch nach vielen Gesprächen und ja, auch viel Streit fing sie irgendwann an, ihre eigenen Überzeugungen zu hinterfragen. Sie war immer noch skeptisch, aber sie hörte mir zu, und ich fing an, ihr auf eine Weise zu erklären, wie ich die Dinge heute sehe. Und irgendwann, nach einer Menge Grübeln, entschloss auch sie sich, den Islam zu verlassen. Es war nicht einfach, aber irgendwie auch befreiend, dass wir beide unseren eigenen Weg gefunden haben.
Ehrlich gesagt, habe ich dieses Bedürfnis zu glauben mittlerweile nicht mehr. Klar, ich verstehe, dass Glaube in schwierigen Momenten Trost spenden kann, wie eine Art Sicherheit, dass alles irgendwie einen Sinn hat. Aber nur weil es sich manchmal so anfühlt, dass es einem hilft, zu glauben, heißt das nicht, dass ich wirklich überzeugt bin. Wunschdenken ist nicht das Gleiche wie echte Überzeugung.
Es gibt noch Momente, in denen ich mich an meine alten Überzeugungen erinnere, wie die Vorstellung, dass alles, was passiert, einen göttlichen Plan hat, oder dass Leid und Freude irgendeine tiefere Bedeutung haben. Letztes Mal, als ich mein (ganzes) Monatsgehalt verloren habe, hab ich mich auch gefragt, ob das irgendwie eine Strafe oder ein Zeichen von oben ist. Aber dann erinnerte ich mich daran, dass ich diese Denkmuster hinter mir gelassen habe. Es dauert eine Weile, sich von den ganzen alten Glaubensvorstellungen zu befreien, aber irgendwie fühlt es sich gut an, nicht mehr ständig nach einer höheren Erklärung für alles suchen zu müssen.
Und wie geht es euch/dir damit? Fühlt ihr manchmal noch das Bedürfnis zu glauben, weil es euch Sicherheit gibt, oder habt ihr euch endgültig von der Vorstellung verabschiedet, dass ein höherer Plan hinter allem steckt?
7 Stimmen
2 Antworten
Ich bin tatsächlich nicht gläubig, aber ich sehne mich manchmal danach, an eben diesen tieferen Sinn und Plan zu glauben, weil es für mich nichts beängstigenderes gibt, als "Zufälle". Ich bin ein absoluter Kontrollfreak und es ist absolut angsteinflößend für mich, dass jederzeit alles passieren könnte. Das geht so weit, dass ich eine Zeit lang meine Psychopharmaka absichtlich nicht genommen und mich absichtlich Triggersituationen ausgesetzt habe, weil ich gehofft habe, eine meiner "Episoden" zu haben. In diesen "Episoden" habe ich irgendein Bild oder einen Grundgedanken von dem ich überzeugt bin und den ich nicht hinterfrage weil es für mich absolut selbstverständlich ist, dass es stimmt, so unlogisch und dumm diese Motive auch sein mögen. Jedenfalls habe ich zu wirklich schwierigen Zeiten immer wieder versucht, diese Episoden herbeizurufen, weil ich in diesen Episoden f.g. glaube, dass alles unter Kontrolle ist bzw ich dann glaube, dass alles einen Sinn und Plan hat oder wie auch immer es in die jeweilige Episode passt. Es klingt absolut dumm und ist rein psychisch bzw neuronal definitiv nicht so, aber in meiner Wahrnehmung waren diese Episoden oft eine Pause bzw eine Möglichkeit für mein Gehirn, sich zu erholen. Ja, das klingt absolut dumm. Es ist schwierig zu erklären, wenn man nicht selber in der Situation war, wird man es wohl nicht verstehen.
Manchmal habe ich schon das Bedürfnis nach Spiritualität. Besonders in Krisenzeiten oder wenn ich einen depressiven Schub habe.