Anzahl der Geschlechter?
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Worauf bezieht sich denn diese Frage? Biologische Geschlechter? Grammatische Geschlechter? Geschlechtsidentitäten?
Biologisch gesehen ist Geschlecht als Spektrum mit drei Extremen zu betrachten. Männlich, weiblich und intergeschlechtlich. Dazwischen gibt es allerdings ebenfalls Ausprägungen, die genau so normal sind. Die Annahme, es gäbe nur zwei biologische Geschlechter, ist inkorrekt.
Dabei sieht der breite wissenschaftliche Konsens mittlerweile anders aus: Geschlecht ist ein Spektrum. Wenn man bei dem Bild bleiben möchte, sind Mann und Frau zwar an den gegenüberliegenden Enden, dazwischen ist aber ganz schön was los.
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Natürlich vorkommende Abweichungen in den Geschlechtschromosomen sind vielseitig.
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Die Suche nach reiner Binarität der Geschlechtsmerkmale können wir also getrost als ergebnislos abhaken. Jegliches vermeintlich “biologische” Argument dagegen ist schlichtweg unwissenschaftlich.
https://www.dw.com/de/der-fall-imane-khelif-mann-oder-frau-es-ist-kompliziert/a-57053524
Und nein, das ist nicht "woke" sondern Wissenschaft.
Geschlechtsidentitäten gibt es weitaus mehr als nur 2. Jeder Mensch hat eine individuelle Geschlechtsidentität, jeder Mensch nimmt diese individuell wahr.
Zumal der Artikel kein Wort über die universell definierende Eigenschaft für Geschlecht verliert: Gameten/Keimzellen.
Gibt nur Mann und Frau das wars und in den seltensten Fällen intersexuell aber das ist kein neues Geschlecht sondern eine Störung der Chromosomen.
Es gibt zwei biologische Geschlechter: männlich und weiblich.
"Divers" ist kein drittes Geschlecht, sondern bedeutet in diesem Zusammenhang, dass jemand intergeschlechtlich ist, also sozusagen "zwischen den Geschlechtern", da die Person sich nicht eindeutig einem der beiden Geschlechter zuordnen lässt.
So einfach hätten es gerne manche Menschen. Das Lieblingsargument ist dabei häufig die Wissenschaft, genauer gesagt die Biologie.
Dabei sieht der breite wissenschaftliche Konsens mittlerweile anders aus: Geschlecht ist ein Spektrum. Wenn man bei dem Bild bleiben möchte, sind Mann und Frau zwar an den gegenüberliegenden Enden, dazwischen ist aber ganz schön was los.
Eindeutig uneindeutig: Die Genetik
XX-Chromosomen = weiblicher Mensch, XY-Chromosomen = männlicher Mensch. So entsteht Geschlecht, lernen wir in der Schule. Bei Menschen mit XX-Chromosomen bilden sich im Mutterleib normalerweise eine Vulva, Gebärmutter und Eierstöcke aus. Bei XY entstehen Penis und Hoden.
Klar sind die Geschlechtschromosomen wichtig, ganz so einfach entsteht Geschlecht aber nicht.
So gibt es zum Beispiel Menschen, die äußerlich aussehen wie Frauen, in ihren Zellen aber die "männlichen" Geschlechtschromosomen XY tragen und umgekehrt. Wie kann das sein?
Ein Gen, das auf dem kurzen Arm des Y-Chromosoms liegt und SRY heißt, entscheidet (neben anderen Mitspielern), ob sich bei einem Embryo Hoden ausbilden oder nicht. Wenn dieses Gen z.B. durch eine Mutation nicht abgelesen wird, also sozusagen stumm bleibt, entstehen trotz XY-Chromosomen keine Hoden.
Andererseits können bei Menschen mit XX-Chromosomen Hoden wachsen, wenn das Gen (vermutlich bei der Zellteilung) auf das X-Chromosom überspringt und abgelesen wird.
Wie sinnvoll ist es also, das Geschlecht nach der Geburt, so wie es momentan meistens gemacht wird, allein an den äußerlich sichtbaren Geschlechtsmerkmalen festzumachen?
Nichts ist in Stein gemeißelt
Natürlich vorkommende Abweichungen in den Geschlechtschromosomen sind vielseitig. Das kann auch Auswirkungen auf die sichtbaren Geschlechtsmerkmale, also die Genitalien haben. Auch hier gibt es mehrere Abstufungen zwischen dem voll ausgebildeten Penis und dem äußerlich sichtbaren Teil der Klitoris.
Personen, die sich nicht eindeutig zu einem der binären Geschlechter zuordnen (lassen), bezeichnen sich als intersexuell bzw inter*. Die Vereinten Nationen schätzen, dass 1,7% der Weltbevölkerung dazugehören. Vergleichbar ist die Zahl also mit der von rothaarigen Menschen auf der Welt.
Seit 2018 können sich diese Menschen in Deutschland als "divers" in das Geburtenregister eintragen lassen, bzw Neugeborene als "divers" eingetragen werden. Auch in anderen Ländern, wie Australien, Bangladesh und Indien wird eine weitere Geschlechtszugehörigkeit anerkannt.
Übrigens: Das Geschlecht kann sich über das Leben auch verändern, genauer gesagt die Geschlechtsdrüsen. Das fanden chinesische Forschende in einer Studie an Mäusen heraus.
Verantwortlich dafür seien die Gene DMRT1 und FOXL2, die normalerweise in einer Art Yin-und-Yang-Beziehung
die Entwicklung von Eierstöcken und Hoden ausbalancieren. Kommt es zu einer Veränderung in diesen Genen, können sich die Geschlechtsdrüsen auch in ausgewachsenen Säugetieren noch vom einen ins andere Extrem wandeln.
Die wechselhafte Symphonie der Hormone
Testosteron: Das Männerhormon! Östrogene und Progesteron: Die Frauenhormone! So einfach ist es auch hier wieder nicht.
Sowohl Männer als auch Frauen und gender-diverse Personen haben alle diese Sexualhormone in ihrem Körper. Progesteron- und Östradiollevel (das wirksamste natürliche Östrogen) unterscheiden sich bei Erwachsenen im Schnitt kaum zwischen den beiden Geschlechtern.
Suche man nach einer Binarität in den Hormonleveln, müsse man eher die beiden Geschlechter "schwanger" und "nicht schwanger" unterscheiden, heißt es in einer Übersichtsstudie
zu anerkannten Geschlechtsmerkmalen, verfasst von amerikanischen Psychologinnen. Denn lediglich schwangere Frauen fallen im Vergleich zu allen anderen Menschen in Sachen Östradiol und Progesteron weit aus dem Rahmen.
Kinder kann man vor der Pubertät im Bezug auf Geschlecht nicht unterscheiden, wenn man sich ihre Sexualhormone anschaut. Erst in der Pubertät schwenken vor allem die Testosteronlevel auseinander, so dass Männer im Schnitt mehr Testosteron besitzen, als Frauen.
Aber auch dieser Unterschied wurde nach neueren Erkenntnissen lange überschätzt - durch ein Versäumnis der Forschung, da Testosteron klischeehaft nur in Männern und Östrogene nur in Frauen untersucht wurden.
Heute wird gezielt an der hormonellen Überlappung der Geschlechter geforscht. Dabei wurde auch entdeckt, dass die Hormonlevel zu einem bemerkenswerten Teil von äußeren Faktoren abhängen und nicht, wie bis dahin angenommen, rein genetisch vorbestimmt sind.
Werdende Väter beispielsweise haben über die Zeit der Schwangerschaft ihrer Partnerin weniger Testosteron. Die vermeintlich weiblichen Hormone Östradiol und Progesteron werden hingegen vermehrt gebildet, wenn Personen um Dominanz konkurrieren - ein Verhalten, das klischeehaft als männlich gilt.
Welches Geschlecht hat dein Gehirn?
Aber Frauen ticken doch ganz anders als Männer, da muss doch was im Gehirn anders sein! Stimmt. Es gibt natürlich durchschnittliche Unterschiede zwischen den Hirnen von Männern und Frauen. Das von Männern ist im Schnitt größer. Einzelne Hirnregionen unterscheiden sich ebenfalls in Durchschnittsgröße, Dichte der Verknüpfungen und Art und Anzahl der Rezeptoren.
Allerdings können Forschende auch hier nicht das männliche oder das weibliche Gehirn genau ausmachen. Jedes Gehirn ist ziemlich einzigartig und ähnelt in seinen einzelnen Teilen eher einem Geschlechter-Mosaik.
So beschreiben es zumindest Forschende von der Universität Tel-Aviv in einer Studie.
Ein Viertel bis die Hälfte der untersuchten 1400 Gehirne zeigten diesen geschlechtlichen Flickenteppich. Auch im Kopf bleibt es also kompliziert.
Da gilt übrigens auch für die Gehirne von Transpersonen, die ebenfalls gezielter untersucht werden: Vergleicht man manche Merkmale wie zum Beispiel die Größe, liegen Transfrauen zwischen den typischen Zahlen der binären Geschlechter. Im Bezug auf einzelne Hirnregionen sind Transpersonen teilweise näher an ihrem gefühlten Geschlecht, manchmal aber auch nah an ihrem zugewiesenen Geschlecht.
Die Suche nach reiner Binarität der Geschlechtsmerkmale können wir also getrost als ergebnislos abhaken. Jegliches vermeintlich “biologische” Argument dagegen ist schlichtweg unwissenschaftlich.
Das Geschlecht ist so komplex und vielseitig, wie die Person die es trägt, und das ist doch etwas Wunderbares.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 31.03.2021 erschienen und wurde am 02.08.2024 aktualisiert.
Quelle: dw
Wie viele Geschlechter gibt es – und was folgt daraus?
Biologie: Definition des Geschlechts über die Rolle bei der Fortpflanzung
Die Frage, wie viele Geschlechter es gibt, hängt davon ab, wie man Geschlecht definiert. Die Biologie ist da sehr klar. Sie macht das Geschlecht an der Rolle in der Fortpflanzung fest. Bei der geschlechtlichen Fortpflanzung treffen immer kleine Samenzellen auf wesentlich größere Eizellen. Diejenigen Lebewesen, die die kleinen Samenzellen produzieren, heißen männlich. Und die, die die großen Eizellen produzieren, heißen weiblich. Dabei ist es völlig egal, ob sie den Nachwuchs im Bauch tragen, im Ei ausbrüten oder, wie bei Pflanzen, aus einer Blüte eine Frucht entsteht. Das ist die biologische Definition – nach der gibt es diese zwei Geschlechter und sonst keins
Zwitter sind in der Biologie kein drittes Geschlecht
Lebewesen, die keine Ei- oder Samenzellen produzieren, haben nach dieser Definition kein drittes, sondern gar kein Geschlecht. Lebewesen wiederum, die beides produzieren – die gibt es vor allem im Reich der Pflanzen – heißen Zwitter. Aber auch sie definieren kein drittes Geschlecht.
X- und Y-Chromosomen sind wichtig, definieren aber nicht das Geschlecht
Mit diesem biologischen Geschlecht gehen bei vielen Tieren und speziell auch beim Menschen in der Regel andere Merkmale einher. Die Männer haben Penisse und Hoden und bekommen Bärte. Die Frauen haben eine Gebärmutter, eine Vagina und bekommen Brüste. Diese Merkmale sind wiederum in der Regel darauf zurückzuführen, dass die Körperzellen der Männer ein Y-Chromosom haben, die der Frauen dagegen nicht; die haben dafür ein zweites X-Chromosom. Allerdings gilt das nur für Säugetiere – bei anderen Tieren sieht das mit den Chromosomen wieder anders aus. Wichtig ist deshalb: Die Chromosomen bestimmen zwar in der Regel das Geschlecht, aber sie definieren es nicht.
Intersexualität hat die verschiedensten Ausprägungen
Nun hab ich bereits in drei Sätzen hintereinander den Ausdruck "in der Regel" verwendet – denn es gibt da auch viele Ausnahmen. Es gibt Menschen mit einem Y-Chromosom, die trotzdem weibliche Genitalien haben, weil ihnen ein bestimmter Rezeptor fehlt und ihre Zellen auf die männlichen Hormone nicht reagieren. Es gibt Menschen, die gleichzeitig Eierstock- und Hodengewebe haben. Das sind nur zwei von vielen Beispielen für intersexuelle Menschen, bei denen der Satz: "Männer haben …" oder "Frauen haben …" so nicht zutrifft.
Ob man für jede Art von Intersexualität ein eigenes physiologisches Geschlecht definiert oder sagt, das sind Ausprägungen, die sich irgendwo zwischen den zwei Geschlechtern bewegt, ist letztlich eine begriffliche Frage, keine wissenschaftliche.
Sex und Gender: Es kommt nicht nur auf das biologische Geschlecht an
Vor allem aber: Die biologischen Begriffe sind nicht die einzigen, auf die es ankommt. Biologisch gibt es zwei Geschlechter – männlich und weiblich. Das ist oft, aber eben nicht zwingend identisch mit dem, was wir als "Mann" oder "Frau" bezeichnen. Die biologische Definition hängt nur von der Keimzellenproduktion ab – produziere ich Ei- oder Samenzellen? Wenn wir im Alltag aber von Männern oder Frauen reden, meinen wir viel mehr damit. Es fängt an bei: Welche Chromosomen hat die Person? Welche Genitalien sind bei ihr ausgeprägt? Hat sie einen Penis oder eine Klitoris?
Sobald wir diese Fragen heranziehen, um zu sagen, ob jemand ein "Mann" oder eine "Frau" ist, haben wir uns schon von der biologischen Lehrbuchdefinition entfernt. Wenn wir dann noch fragen: Wie verhält sich die Person? Oder eben: Als was fühlt sie sich selbst? – dann reden wir nicht mehr über das biologische Geschlecht – englisch: Sex – sondern über Geschlechter im sozial-kulturellen Kontext, kurz: Gender. Wie viele Geschlechter es im Sinne von "Gender" gibt – darüber zu diskutieren ist ziemlich müßig, weil es sich kaum an eindeutigen objektiven Merkmalen festmachen lässt.
Biologische Definition hilft beim Umgang mit Transidentität nicht weiter
Anders gesagt: Festzustellen, dass es nur zwei biologische Geschlechter gibt, hilft überhaupt nicht weiter, um politisch-gesellschaftliche Entscheidungen zu treffen, etwa wie wir mit den verschiedenen Formen von Transidentität umgehen, also mit Menschen, die bei der Geburt als "weiblich" erkannt wurden, sich selbst aber als Junge oder Mann fühlen. Ab welchem Alter und unter welchen Voraussetzungen sollen junge Menschen das Recht haben dürfen, auch körperlich ein anderes Geschlecht anzunehmen als das, das ihnen zugeschrieben wurde? Welche Freiheiten sollte jemand haben, offiziell seinen Geschlechtseintrag bei den Behörden zu ändern?
Chancen und Risiken durch die Zuordnung zu einem bestimmten Geschlecht
Bei den Antworten auf diese Fragen kommt es nicht darauf an, wie die Biologie Geschlecht definiert und ob jemand Ei- oder Samenzellen produziert, sondern auf ganz andere Fragen – etwa um das Abwägen von Risiken und Chancen für die jeweilige Person.
Nehmen wir die Diskussion um den Geschlechtseintrag: Warum genau definieren wir bei der Geburt, ob jemand männlich oder weiblich ist? Früher war das recht klar: Männer durften wählen, Frauen nicht. Männer mussten zum Bund, Frauen nicht. Wozu aber dient der Geschlechtereintrag heute? Der Statistik? Um zu klären, auf welches Klo die Person später geht? Um zu entscheiden, ob jemand in einer Frauenmannschaft mitspielen darf? Oder auf Platz 1 oder 2 der Grünen Landesliste stehen darf? Je nachdem, worum es geht, könnten unterschiedliche Geschlechterdefinition maßgeblich sein. Die Behörden kennen aber nur eine: männlich, weiblich und "divers" – für alle, die sich nicht eindeutig zuordnen können oder wollen.
Biologische Definition beantwortet nicht die gesellschaftlichen Fragen
Dass es zwei Geschlechter gibt, ist eine biologische Definition. Definitionen lassen sich aber wissenschaftlich nicht "beweisen" – denn in der Natur gibt es keine Begriffe.
Quelle: swr
Gender in der Biologie: Es gibt mehr als zwei Geschlechter
Nur „weiblich“ und „männlich“ ist zu wenig. Es gibt mehr als zwei Geschlechter. In der Biologie ist das inzwischen anerkannt.
31.03.2016, 19:30 Uhr
Die Wissenschaftszeitschrift „Nature“ – sie gehört zu den anerkanntesten in der Disziplin Biologie – veröffentlichte unlängst einen Übersichtsartikel, der gesellschaftliche Gewissheiten auf den Kopf stellt. Biologisches Geschlecht sei nicht einfach in zwei Varianten – „weiblich“ versus „männlich“ aufzuteilen. „Die Annahme, es gebe zwei Geschlechter, ist zu simpel“, erläutert Claire Ainsworth im Artikel „Sex redefined“. Sie fasst damit den Forschungsstand der Biologie zusammen, der von einem größeren Spektrum geschlechtlicher Entwicklungsmöglichkeiten ausgeht.
Kombinationen galten lange als "Störungen"
In der Biologie ist diese Sichtweise nicht so neu. Ganz im Gegenteil: Die Biologie nahm ihren Ausgangspunkt aus der sicheren Überzeugung, dass jeder menschliche Embryo in seiner Entwicklung zunächst das Potenzial habe, sich in weiblicher und in männlicher Richtung zu entwickeln. Es könnten bei den sich entwickelnden Menschen dabei Merkmale weiblichen Geschlechts deutlicher hervortreten oder solche männlichen Geschlechts. Bei anderen Menschen würden Kombinationen auftreten – lange Zeit untersuchte man diese mit den Mitteln der modernen Biologie und Medizin genauer, beschrieb sie aber bald als „Störungen“ und versuchte sie zu vernichten.
Die Furcht vor Ambiguität schwindet
Mittlerweile ändert sich die Perspektive. Auch in den westlichen Gesellschaften verschwindet zunehmend die Furcht vor geschlechtlicher und sexueller Ambiguität, im Sinne von Widersprüchlichkeit und Widerspenstigkeit. In den anderen Weltregionen war die Toleranz gegenüber Ambiguität ohnehin deutlicher ausgeprägt, wie der Leibniz-Preisträger und Arabist Thomas Bauer in seinem Werk „Die Kultur der Ambiguität“ (2011) zeigt. Erst die moderne europäische Wissenschaft nahm auch dort ihr fragwürdig Erscheinendes ins Visier, deutete und tilgte es.
Seit den 1970er/80er Jahren wurden auch in der Biologie die Einwände gegen biologische Modelle strikter geschlechtlicher Zweiteilung wieder deutlicher. Zentrale Denkanstöße gaben Arbeiten feministischer Wissenschaftskritik. Für die Diskussion geschlechtlicher Vielfalt waren hier unter anderem Veröffentlichungen der US-amerikanischen Naturwissenschaftlerinnen Anne Fausto-Sterling und Evelyn Fox Keller bestimmend. Fausto-Sterling publizierte als Extrakt ihrer Untersuchungen 1985 ein Buch, das unter dem Titel „Gefangene des Geschlechts“ kurz darauf auch auf Deutsch erschien. Darin diskutiert sie aktuelle biologische Theorien kritisch – und konfrontiert sie mit gegenläufigen Beobachtungen und Studien. Mit ihren Aufsätzen „Die fünf Geschlechter: Warum männlich und weiblich nicht genug sind“ (Zeitschrift The Sciences, 1993) und „Die fünf Geschlechter erneut betrachtet“ (The Sciences, 2000) legte sie die Grundlage für weiterführende Debatten und bot wissenschaftliche Unterstützung für die Kämpfe der Intersexuellen-Bewegung.
Intersexuelle Menschen galten als Problemfälle
Fausto-Sterling fokussierte in diesen Aufsätzen die vielfältigen geschlechtlichen Ausprägungsformen, die in der biologischen und medizinischen Forschung (und Behandlungspraxis) als „Störungen“ eingeordnet und als behandlungsbedürftig betrachtet wurden, und wandte sich gegen die Einordnung intersexueller Menschen als „Problemfall“. In weiteren Arbeiten wie dem Buch „Sexing the Body“ (2000) sezierte sie biologische Theoriebildung etwa in Bezug auf Geschlechtshormone. Da die als männlich betrachteten Hormone „Androgene“ und die als weiblich betrachteten Hormone „Östrogene“ in allen Menschen vorkommen und wichtige physiologische Funktionen übernehmen, sollten sie nicht als „Geschlechtshormone“ bezeichnet werden, sondern vielmehr als Wachstumshormone, argumentierte Fausto-Sterling.
Chromosomen - Diktatorinnen der Zelle?
Auch lieferte sie kritische Betrachtungen zu Studien, die zeigen wollten, dass Frauen diese und Männer jene Gehirne hätten. Sie diskutierte die Studien für ihre gewählten Methoden und konfrontierte sie mit anderen Ergebnissen. Noch in den 1990er Jahren und zu Beginn der 2000er Jahre erntete Fausto-Sterling für ihre Ansätze Kritik und Auseinandersetzung. Mittlerweile ist anerkannt, dass sie wesentlich zur kritischen Reflexion methodischer und inhaltlicher Setzungen der Biologie beigetragen hat. In der Biologie wurden – und werden oft noch immer – die Proband_innen schon zu Beginn einer Studie in die Gruppen „weiblich“ und „männlich“ aufgeteilt, und diese Einteilung präformiert bereits die Ergebnisse. Regelmäßig wurde dabei die Bedeutung männlichen Geschlechts überhöht. Neu war die Erkenntnis mehrerer Geschlechter aber auch bei Fausto-Sterling nicht mehr. Hingegen hatte etwa Richard Goldschmidt in den 1920er Jahren eine „lückenlose Reihe geschlechtlicher Zwischenstufen“ postuliert, und das nachdem einige Jahre zuvor die für die Geschlechtsbestimmung als wichtig angenommenen Chromosomen X und Y gefunden und benannt worden waren. Was ist in einer Gesellschaft los, die bei Nennung von X- und Y-Chromosom gleich an Zweigeschlechtlichkeit glaubt? Und warum kam Goldschmidt zu einer solch anderen Einordnung? Goldschmidt sah die Chromosomen nicht als „Diktatorinnen“ der Zelle an, vielmehr ordnete er sie in ein komplexes System weiterer wirkender Faktoren ein.
Der Blick auf die biologische Geschlechtsentwicklung ist kritischer geworden
In der Folgezeit wurde aber das Paradigma der Erblichkeit in der Biologie bestimmend. Die Erbsubstanz DNS wurde in der Biologie als Schaltzentrale angenommen, Fördergeld floss in Massen in ihre Untersuchung. Schließlich wurde versucht, für die einzelnen körperlichen und psychischen Merkmale „Gene“ zu finden, die sie codieren sollten, wie bei einer zu entschlüsselnden Geheimschrift. Der Rest der Zelle wurde als nachrangig betrachtet oder gleich gar nicht untersucht. Das galt auch für das Geschlecht. Hier ging man davon aus, dass es ein zentrales Gen für die Ausbildung von Hoden geben müsste oder zumindest ein Gen, das als zentraler Schalter fungierte und die Entwicklung auf „männlich“ schaltete. Diese einfache Sicht wurde für das Geschlecht zunächst auch dann noch aufrechterhalten, als in anderen Forschungsfeldern der Genetik differenziertere Modelle der Regulation und Wirkung von Genen etabliert wurden. Schließlich relativierte das Humangenomprojekt die Bedeutung von Genen. Es zeigte, dass die Spezies Mensch kaum mehr Gene als der unscheinbare Fadenwurm Caenorhabditis elegans hat. Ein diesbezüglich bemerkenswertes Buch stammt von Evelyn Fox Keller: „Das Jahrhundert des Gens“ (deutsch 2001).
X- und Y-Chromosomen kommt bei manchen Säugetieren nicht vor
Seitdem ist auch der Blick auf biologische Geschlechtsentwicklung kritischer geworden. Es werden nun differenzierte Aussagen getroffen, die nicht stets „weiblich“ oder „männlich“ schon in der Untersuchungsfrage voraussetzen. Komplexe Modelle werden für alle Merkmale und „Ebenen“ verfolgt, die in der biologischen Geschlechtsentwicklung Bedeutung haben: Chromosomen; Gene; Regulation der Gene; Hormone; Rezeptoren, an die die Hormone sich anbinden können; Keimdrüsen (Hoden, Eierstöcke, Mischgewebe); innere Genitalien; äußere Genitalien; weitere Bestandteile des Genitaltraktes. So wurden etwa in der Genetik in Modellversuchen an Mäusen mittlerweile ungefähr 1000 Gene als möglicherweise an der Geschlechtsentwicklung beteiligt beschrieben, von denen gerade einmal 80 etwas untersucht sind, durchaus mit widersprüchlichen Befunden. Die allermeisten dieser Gene finden sich im Regelfall nicht auf dem X- oder dem Y-Chromosom. Bei einigen Säugetierarten konnte die Unterscheidung eines X- und Y-Chromosoms überhaupt nicht gezeigt werden.
Gene und DNS sind nur Faktoren in einem komplexen Zusammenspiel
Und nun – nach den ernüchternden Ergebnissen des Humangenomprojekts – werden die Zelle und die weitere Umgebung wieder wichtiger genommen, so wie es Goldschmidts Ansatz war. Galt bis vor wenigen Jahren noch die DNS als heimliche „Diktatorin“ der Zelle, so wird sie nun entthront. Heute heißt es, dass die DNS nicht schon Information beinhalte und die Zelle über Abläufe informieren würde, vielmehr gibt es in der Zelle ein ganzes Netzwerk von Faktoren, die miteinander in Wechselwirkung stehen, sich zusammenlagern und letztlich entscheiden, welches tatsächlich wirksame Produkt hergestellt wird und wie ein Abschnitt der DNS abgelesen, das Produkt verändert und schließlich gefaltet werden muss, damit ein wirksames Produkt entsteht. Kurz gesagt: „Gene“ und DNS sagen eben nicht die Entwicklung eines Organismus beziehungsweise hier eines „Genitaltraktes“ voraus. Vielmehr stellen sie lediglich einen Faktor im komplexen Zusammenspiel von Faktoren der Zelle dar. So zeigte sich für einige Gene, die als bedeutsam für die Geschlechtsentwicklung angenommen werden, dass aus ein und demselben Gen mehr als zwei Dutzend unterschiedliche Produkte gebildet werden, die in der Zelle unterschiedliche Aufgaben erfüllen.
Das einfache Modell der Zweigeschlechtlichkeit hat ausgedient
Claire Ainsworth fasst den Forschungsstand für die Geschlechtsentwicklung nun in ihrem Überblicksartikel zusammen. Es gibt demnach nicht nur zwei Geschlechter. Einen differenzierten Einblick in die Thematik bietet in deutscher Sprache das Buch „Geschlecht: Wider die Natürlichkeit“ (Voß 2011). Beiträge von Biolog_innen, die zum Weiterdenken über die Gehirnforschung einladen, sind etwa: „Wie kommt das Geschlecht ins Gehirn?“ (Sigrid Schmitz 2004, online) und „Warum Frauen glauben, sie könnten nicht einparken – und Männer ihnen Recht geben“ (Kirsten Jordan/Claudia Quaiser-Pohl 2007).
Eines scheint dabei gesichert: Das einfache Modell biologischer Zweigeschlechtlichkeit, das sich an der europäischen Geschlechterordnung mit ihrer Zurücksetzung der Frauen orientierte, hat ausgedient.
Der Autor ist als diplomierter Biologe Professor für Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung an der Hochschule Merseburg.
Quelle: Tagesspiegel
In Ihrem Artikel wird doch erklärt, dass das auf Mutationen und damit verbundene Defekte, Störungen und Fehlentwicklung zurückzuführen ist. Wie man da ein 3 Geschlecht ableitet wissen wohl nur Sie und die, die es gerne als solches erachten wollen. Aus Biologischer Sicht lässt sich dies aber auf eines der beiden Geschlechter mit entsprechenden Syndrom zurückführen.