Fangen wir mal an mit dem Verhältnis Nietzsches zum Nationalsozialismus. Um dieses verstehen zu können, müssen wir uns die wesentlichen Grundzüge (alles andere würde den Rahmen sprengen) von Nietzsches Philosophie bzw. vor allem seiner Konzeption des „Übermenschen“ ansehen.
Die Grundidee hinter der Philosophie Nietzsches und hinter seinem Konzept der Übermenschen war ein Amoralismus, also die Ablehnung jeglicher verbindlicher moralischer Maßstäbe, insbesondere aller etablierten Moral, also beispielsweise der christlichen oder kantianischen Ethik. Gerade gegen das Christentum und gegen Kant hat Nietzsche sehr scharf polemisiert.
An die Stelle dieser etablierten Moral tritt dann eben der Übermensch. Bei diesem Ideal handelt es sich nicht um eine ausformulierte Ersatzmoral, sondern um eine bestimmte Grundhaltung. Der Übermensch zeichnet sich dabei aus durch eine schaffende Tätigkeit, eine lebensbejahende Grundhaltung, starken Individualismus und Kompromisslosigkeit, Härte und wohl auch Rücksichtslosigkeit in der Verfolgung seiner Ziele. Worin das Schaffen des Übermenschen besteht und welche Ziele verfolgt werden, ist für Nietzsche bestenfalls zweitrangig. Er hat namentlich Bewunderung für Personen wie Alkibiades, Cesare Borgia oder Julius Cäsar geäußert, deren Schaffen rein auf den persönlichen Machtgewinn gerichtet war.
Das Ideal das Übermenschen wurde dabei von Nietzsche einerseits als Ziel verstanden, das jeder Mensch oder zumindest jeder Mann durch eigene Anstrengungen erreichen kann. Allerdings: Dass es überhaupt nicht physisch zu verstehen ist, wie schon behauptet wurde, ist wohl nicht richtig. Es finden sich bei Nietzsche nämlich durchaus Überlegungen, das Ziel das Übermenschen durch eugenische Menschen zu fördern, was für einen gewissen Biologismus spricht.
Im Übrigen ist zu sagen, dass Nietzsche für die restlichen Menschen sehr wenig übrig hatte. Genau genommen finden sich bei ihm Überlegungen dazu, den Übermenschen durch deren massenhafte Tötung hervorbringen zu wollen.
Insoweit gibt es durchaus gewisse Ansatzpunkte der nationalsozialistischen Ideologie bei Nietzsche, namentlich eben die Eugenik und die Überlegungen, den „idealen Menschen“ durch die massenhafte Tötung „nicht idealer Menschen“ fördern zu wollen. Auf der anderen Seite sind aber Nietzsches starker Individualismus und seine Ablehnung etablierter Moralvorstellungen (die Nazis haben an allen Stellen etablierte konservative Vorstellungen aufgegriffen und radikalisiert) mit der NS-Ideologie unvereinbar.
Nun zu meiner Meinung zu Nietzsche als jemand, der als Jugendlicher eine-kurze-Nietzsche-Phase hatte.
Nietzsches Position ist in ihrem Ausgangspunkt letztlich ein Amoralismus und, weitergehend, ein Erkenntnisskeptizismus, wie wir in seinen grundlegenden Zügen schon bei den antiken Sophisten finden. Diese Position lehne ich aus einer Vielzahl von Gründen, die zu erläutern den Rahmen dieser schon langen Antwort sprengen würde, die ich aber auf Nachfrage erläutern werde, ab. Auch taugt sein „Übermensch“ unabhängig von seiner verfehlten Begründung nicht als Ideal, weil er eben losgelöst von irgendwelchen moralischen Bezugspunkten seines Schaffens ist, weil eine Gesellschaft von „Übermenschen“ bzw. solchen, die es zu sein versuchen, niemals funktionieren könnte, und weil Nietzsche das Angewiesensein von Menschen aufeinander verkennt.
Die zentrale Schwäche Nietzsches ist aber eine andere. Seine Werke lassen sich nämlich oft durch das Motto „Stil über Substanz“ gut zusammenfassen. Er stellt viele Behauptungen auf, wirft mit persönlichen Angriffen und Unterstellungen gegen seine Gegner um sich, all das in einer durchaus beeindruckenden poetischen Sprache. Allerdings: Wirkliche Sachargumente findet man selten, seine Begründungen sind äußerst lückenhaft. Nur mal als Beispiel: Eine zentrale Grundannahme in Nietzsches Philosophie ist sein Atheismus. Diesen begründet er an keiner Stelle. Insoweit muss dann gesagt werden, dass viele der Positionen Nietzsches anderswo substantiierter vertreten werden.
Insgesamt war Nietzsche daher aus meiner Sicht zwar ein brillanter Schriftsteller, aber ein mittelmäßiger Philosoph.