«JE MEHR SICH der Sommer zu Ende neigt, breiten sich die Lemminge erst in dem obersten Waldgebiet aus und dann immer weiter hinunter, um im Herbst eine der grossartigen Wanderungen zu unternehmen, wobei die sonst so scheuen Tiere massenweise rücksichtslos vorwärtsdrängen und kaum irgend etwas ausweichen. Sie bahnen sich unentwegt vorwärts, verwegen und alles scheltend und sich selbst oft wütend und nutzlos zur Wehr setzend.» So beschreibt ein Zoologiehandbuch um die Jahrhundertwende die legendären Wanderungen der Berglemminge im hohen Norden. Und ein norwegischer Forscher berichtet, wie im Jahre 1868 ein Dampfer im Trondheimfjord mit voller Fahrt mehr als eine Viertelstunde durch eine gewaltige Schar schwimmender Lemminge pflügte.
Die «Lemmingzüge» werden bereits in einer norwegischen Bibelübersetzung des 12. Jahrhunderts erwähnt, wo man sie mit der Heuschreckenplage in Ägypten vergleicht. Beobachter aus dem Mittelalter berichten, wie Lemminge «in unerhörter Zahl aus der Luft herunterfallen» und dass der Biss dieser Tiere giftig sei. In Norwegen fürchtete man die Lemminge wie die Pest. Um die Invasion abzuwenden, wurden in den Kirchen Gebete verlesen. Bis in die neuere Zeit hielt sich der Glaube, die Lemminge seien von Todessehnsucht beherrscht, die sie zum kollektiven Selbstmord in die Flüsse und Fjorde treibe.