wieso war der Balkan vor und zu Beginn des ersten Weltkriegs eine umkämpfte Region?

2 Antworten

Grundlegend gilt, daß der Niedergang des osmanischen Reiches im 19. Jh. ein Machtvakuum hinterlassen hatte, in der nun die vom osmanischen Joch befreiten Balkanvölker um Selbstbestimmung rangen, doch zugleich auch unter dein Einfluss neuer Großmächte gerieten. Das waren in diesem Fall Russland und Österreich-Ungarn. Eine dritte, allerdings untergeordnete Rolle spielte auch noch Italien.

Die russische Ideologie des sogenannten Panslawismus (Allslawentum) sah vor, dass das orthodoxe Russland die slawischen Völker unter seine wohlwollende Schirmherrschaft stellt. Die Ukraine gehörte ja bereits zum russischen Zarenreich (und weiter im Norden auch Polen sowie das nichtslawische Finnland) und die Russen strebten zum Mittelmeer sowie nach Konstantinopel, der alten Hauptstadt Ostroms und der orthodoxen Kirche. Anstelle der brutalen osmanischen Unterrücker sollte nun eine wohlwollende slawisch-brüderliche Vorherschaft Russlands den Balkan einen – so jedenfalls das Selbstverständnis dieser von vielen russischen Adligen und Intellektuellen vertretenen Ideologie.

Später wurde die panslawistische Ideologie von den Kommunisten wieder aufgegriffen und teilweise umgesetzt (Warschauer Pakt nach dem Zweiten Weltkrieg). Heute wiederum knüpft auch Putin wieder an ähnliche ideologische Denkmuster an, die aber letztlich nur eine Verschleierung der Machtinteressen Russlands darstellen.

Diese Russen-Ideologie hat Ähnlichkeiten mit der USA-Ideologie der „Manifest Destiny“ (offensichtliche Bestimmung) bzw. der Ideologie der „freien Welt“ des von einem unter der Schirmherrschaft eines wohlwollenden USA-Imperiums geeinten Westens, wie wir sie heute kennen.

Auch die Briten hatten im 19. ähnliche selbstgerechte Ideologien („Rule Britannia“), die der Verschleierung brutaler, machiavellistischer Hegemonialinteressen unter der Maske wohlklingenden cants (d. h. politische Heuchelei) dienten.

Die andere Großmacht mit Interessen auf dem Balkan war Österreich, das seit der Personalunion mit Ungarn 1867 zum großen Rivalen Russlands auf dem Balkan wurde. Aus diesem russisch-österreichischen Gegensatz konnte letztlich der Weltkrieg 1914 entstehen.

Bei den einzelnen Balkanvölkern selbst herrschte große Uneinigkeit, sowohl untereinander als auch im Inneren dieser Völker selbst. Die Nationalismen des Serben-, Kroaten-, Bulgaren- und Rumänentums prallten ebenso hart aufeinander wie die prorussischen Ideologien (vor allem in Serbien) sowie die proösterreichischen (die wiederum z. B. in Bulgarien einen gewissen Zulauf erhielten).

Der Charakter dieser politischen Kämpfe ging oft ins Bewaffnete über und allgemein galt der Balkan daher als Pulverfass, das gänzlich raumfremde Mächte wie Frankreich oder Großbritannien auch nutzen konnten, um aus diesem eine größere Katastrophe zu evozieren. 1914 ist ihnen dies geglückt …

Der Balkan ist seit jeher ein Pulverfass, wo auf relativ kleinem Gebiet relativ viele Völkerschaften, Religionen und Clans leben, die irgendwie immer miteinander verstritten zu sein scheinen. Diese Region war bereits im 19. Jahrhundert sowohl im österreichischen als auch im osmanischen Teil ein permanenter Unruheherd. Der Zerfall des Osmanischen Reichs bzw. dessen fortschreitender Macht- und Territorialverlust setzten die zerspaltenden Kräfte erst richtig freu und brachten dadurch auch die alten sprachlichen, kulturellen und religiösen Konflikte zu einem erneuten Ausbruch.

Diese Zersplitterung hat auch einen Fachbegriff: Balkanisierung.