Wie kam Gehlen zu seinem Menschenbild?

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Arnold Gehlen zählt mit Helmuth Plessner und Max Scheler zu den Hauptvertretern der Philosophischen Anthropologie. Alle drei haben sich gegenseitig beeinflusst und inspiriert. Der Grundgedanke des Menschen als Mängelwesen sowie des Menschen als ein auf Gesellschaft angewiesenes Wesen war bereits in der antiken Philosophie vorhanden. Speziell Platon erzählt die Version eines Prometheus-Mythos, in der der Mensch als Mängelwesen charakterisiert wird.

Wikipedia - Prometheus:

"Prometheus wird bei Platon mehrmals thematisiert, besonders erwähnenswert ist aber die Stelle im Protagoras: Epimetheus soll den Lebewesen Eigenschaften zuordnen. Epimetheus übernimmt diese Aufgabe und lässt sich dann von seinem Bruder, Prometheus, kontrollieren. Zuerst wird er einmal gelobt: Epimetheus hat den Tieren gerecht verteilt Eigenschaften gegeben: Die Schnellen sind klein, die Wehrlosen haben zahlreichen Nachwuchs, ein ausgewogenes Verhältnis aller Arten ist gewährleistet.

Doch dann entdeckt Prometheus ein kleines, nacktes Wesen: den Menschen. Er ist leer ausgegangen, denn keine Eigenschaft ist mehr übrig geblieben. (Mängelwesen!) So sieht sich Prometheus gezwungen, für den Menschen das Feuer und die Weisheit der Athene, die Kunstfertigkeit des Hephaistos und andere zum Überleben wichtige Fähigkeiten zu stehlen, wie das Weben.

Doch damit ist das Problem nicht gelöst: Die Menschen, die sich aus Schutz vor den Tieren in Städten („Poleis”) zusammenschließen, töten einander, weil sie Scham und Mitgefühl, die staatsbürgerliche Kunst – so Platon – nicht haben.

Um diese Gattung nicht zu verlieren, sieht sich Zeus gezwungen, später Hermes mit eben diesen Fähigkeiten (Gesetz, Moral) auf die Erde zu schicken und sie, im Gegensatz zu den anderen Fähigkeiten, gerecht unter allen zu verteilen. Platon: „Ja, du [Hermes] sollst in meinem Namen das Gesetz geben, dass, wer nicht imstande sei sich Scham und Recht zu eigen zu machen, dem Tod verfallen sei; denn er ist ein Geschwür am Leibe des Staates.“

Interessant ist die Unterscheidung zwischen Fähigkeiten, die zum Leben und gegen die Natur nötig sind, und jenen, die zum gemeinschaftlichen Zusammenleben notwendig sind."

Wichtige Einflüsse gingen von der philosophischen Anthropologie seiner Zeit aus. Mit der Frage nach einer Wesensbestimmung des Menschen wird ja das Menschenbild Thema. Arnold Gehlen ha nach einer Phase der Beschäftigung idealistischen Standpunkten und Fragestellungen und einer Phase mit existentalistischen und phänomenologischen Standpunkten und Fragestellungen ab 1935/6 Anthropologie zu seinem Scherpunkt genommen.

Bedeutende Einflüsse und Anregungen gingen auf diesem Gebiet vor allem von Max Scheler (eine Zusammenfassung ist: Die Stellung des Menschen im Kosmos, 1928 und Helmuth Plessner aus z. B: Die Stufen des Organischen und der Mensch : Einleitung in die philosophische Anthropologie, 1928) aus. Helmuth Plessner hat die Stellung des Menschen in der Welt als exzentrische Positionalität bezeichnet: Menschen sind in ihrer leiblichen Existenz, aber sie haben sie auch, sie können sich auf ihre Mitte beziehen und dabei gewissermaßen neben sich stehen (durch einen Abstand vom erlebenden Zentrum), ohne sich zu verlassen.

Arnold Gehlen hat außerdem Untersuchungen und Ergebnisse der Naturwissenschaft seiner Zeit aufgegriffen, vor allem der Biologie (z. B. Louis Bolk und Adolf Portmann, die den Menschen als in morphologischen Mermalen zurückgehalten deuteten, als frühbeporen mit einer langen Entwicklung der Reifung, daher besonders auf Hilfe und Versorgung angewiesen [Retardations- und Fötalisationstheorie].

Während seines Studiums in Leipzig kamen die stärksten Einflüsse von Hans Driesch (ab 1924)mit seiner in einer Zwischenstellung zwischen Philosophie und Biologie stehenden Philosophie des Organischen, einem lebenphilosophischen Ansätzen verbundenenen Vitalismus, und von Hans Freyer (ab 1925), der Soziologie lehrte. Mit seiner gründungs- und tatgezogenen handlungstheorie und seiner Institutionenlehre (insofern in das Menschenbild einfügbar als Arnold Gehlen Institutionen als Entlastung des Menschen durch einen sicheren, festen Rahmen deutete).

Veröffentlichungen von Frederik Jacobus Johannes Buytendijk, z. B. über das Spiel von Mesnsch und Tier, regten Gehlens Überlegungen an, ebenso Jakob Johann von Uexküll mit seiner Umweltlehre.

George Herbert Mead bot Anregungen zur Instinktreduktion.

Beim Gedanken des Antriebsüberschusses hat es Einflüsse der Psychologie gegeben, dies ist eine von Sigmund Freud vertrenene Vorstellung. Alfred Seidel und Max Scheler haben psychologsiche Überlegungen vermittelt.

Zeitlich zurückgehend hat Arnold Gehlen auch ältere Gedanken auf dem Gebiet der Anthropologie rezipiert, darunter aus der Antike. Ein frühes Beispiel ist Platon, Protagoras 320 c – 321 e (in einem Mythos mit Prometheus und Epimetheus, Athene, Hephaistos, Zeus und Hermes, der sich auf die Lehrbarkeit der Tugend bezieht; Die Menschen sind bei bei einer Teilung vergessen woreden und haben keine spezielle Fähigkeit erhalten, Prometheus stiehlt Feuer [Technik/Kunstfertigkiet] und Weisheit und schenkt sie den Menschen, die Gaben der sittlichen Scheu und des Rechts, die Hermes bringt, ermöglichen ein gelingendes Zusammenleben mit politicher Kunst) zur Unterlegenheit des Menschen z. B. hinsichtlich Kraft und Schneligkeit; nur wird wegen solcher Unterlegenheiten und der Bedürftigkeit das Wesen der Mensch von Platon nicht als damit bestimmt verstanden, ein Mängelwesen zu sein.

Zu einer Reihe anderer Denker mit Beiträgen zum Thema gibt es auch Bezüge bei Gehlen, z. B. Immanuel Kant, Friedrich Schiller. Georg Friedrich Wilhelm Hgeel, Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche.

Arnold Gehlen hat (zuerst in seinem Werk „Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 1940) den Menschen als Mängelwesen bezeichnet.

Als Begründung verweist er zum einen auf eher geringe Fähigkeiten aufgrund organischer Spezialisierungen. Im Vergleich zu vielen nichtmenschlichen Tieren sei der Mensch unterlegen. Es fehlen ihm in der natürlichen Ausstatung starke Angriffsmittel wie sehr leistungsfähige Klauen und Zähne, Schutzmittel wie z. B. Panzerung, besonders wirkungsvolle Fluchteigenschaften (z. B. ist er nicht außerordentlich schnell). Er ist wenig gegen Witterungseinflüsse geschützt (kein dichtes Fell, keine besonders stark isolierende Fettschicht). Seine Sinnesorgane sind auch nicht enorm scharf. Der Mensch setzt zur Behauptung seiner Existenz als Hilfsmittel Technik ein.

Zum anderen begründet er die Auffassung mit einer „Instinktreduktion“.


Albrecht  17.08.2012, 23:24

Werner Brede, Mängelwesen. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 5: L – M. Basel ; Stuttgart: Schwabe, 1980, Spalte 712 – 713 gibt an:

Der Begriff Mängelwesen beruht auf einem Vergleich zwischen Mensch und Tier und bezieht sich auf die dem Menschen eigentümliche Verschränkung von biologischer Benachteiligung und geistiger Fähigkeit.

Es geht um ein bereits in der Antike entdecktes Wesensmerkmal des Menschen. In der Formel von der* natura noverca* (Stiefmutter Natur) ist es zum Topos geworden.

Eine neue Interpretation kam von Johann Gottfried Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772), der es allerdings Mängel und Lücken als Charakterisierung nicht für ausreichend hielt. Der Mensch stehe Tieren an Stärke und Sicherheit der Instinkte weit nach, aber darin liege ein Keim zum Ersatz, der Mangel an natürlicher Kunstfertigkeit werde wettgemacht durch Vernunft, der Mangel an Instinkt durch Freiheit.

Arnold Gehlen hat den Kompensationsgedanken aufgegriffen und als erster ausdrücklich den Begriff „Mängelwesen“ verwendet. Er sucht die Kompensation nicht in der Vernunft und Selbstentwicklung des Menschen, sondern in der Notwendigkeit seiner Formung und Disziplinierung.

Gehlen weist auf andere Denker hin, Personenregister in Werken bieten Anhaltspunkte, wenn auf häufig Nennung geachtet wird.

Johann Gottfried Herder gibt er ausdrücklich als Vorgänger in der Anthropologie an. Vgl. Arnold Gehlen, Der Mensch : seine Natur und seine Stellung in der Welt. Mit einer Einführung von Karl-Siegbert Rehberg. 14. Auflage. Wiebelsheim : Aula-Verlag , 2004, S 82 – 84

S. 84: „Die philosophische Anthropologie hat seit Herder keinen Schritt vorwärts getan, und des ist im Kern dieselbe Auffassung, die ich mit den Mitteln moderner Wissensschaft entwicklen werde. Sie braucht auch keinen Schritt vorwärts zu tun, denn sie ist die Wahrheit.“

Bücher können helfen, z. B.:

Christian Thies, Gehlen zur Einführung. 1. Auflage. Hamburg : Junius , 2000 (Zur Einführung ; 229). ISBN 3-88506-329-8

Joachim Fischer, Philosophische Anthropologie : eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts. Freiburg im Breisgau ; München : Alber , 2009, S. 152 - 182

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Tja wie ist denn sein Menschenbild? Das große Stichwort über Gehlen, Freyer, Scheler, Schelsky u.a. ist für viele das "Mängelwesen Mensch" - so und das ist ja auch nicht falsch - es ist ein Axiom, das nicht erfunden wurde, sondern immer durch vernünftige Denker herausgearbeitet wurde! Was sagt man noch über diese Schule, die eigentlich keine Schule war; sondern Denker gleicher Lage, ich werde das noch erläutern.

Was gabs an Ansätzen für die Deutung des Sozialen aus anthropologischen Gesichtspunkten in der Zwischenkriegszeit ?

  1. Die Neokantianer, die sich in alle Richtungen verliefen.
  2. Die Erben der Historischen Schule, den es so an einem Theoriegebäude mangelte, dass daraus nur gute Volkskundler aber keine Soziologen wurden.
  3. Der Übervater der deutschen Soziologie Max Weber, der sich aus Historischen Schule emanzipierte aber aus bekannten Gründen seiner Vita nie eine Schule etablierte

  4. Die Marxisten, die ob ihrer blinden Deduktion nichts hervorbrachten und ihr Ableger, die Frühe Frankfurter Schule, sie sich auch schon aus lauter jüdischen Weltschmerz in intellektuelle Spielereien verlor.

  5. Die frühe Psychologie (damals an der Philosophischen Fakultät) ,die sich a) entweder von allen sozialen Theorien fernhielten und die Koffer packten um eine eigene Wissenschaft zu etablieren b) im Freudianismus verloren oder wie C.G. Jung ins Esoterische gingen – wobei das sehr verkürzt ist keine Abwertung sein soll oder c) sich dem Marxismus anschloss!

So also an was sollten sich junge Intellektuelle der Zwischenkriegszeit wie Gehlen orientieren? Im Bereich des Sozialen war alles murks und hinfällig. Schelsky, der zwar 10 Jahre jünger war als Gehlen, hat das mal so formuliert: „Die deutsche Soziologie war lange vor 1933 am Ende.... alle Töne waren gespielt, alle Melodien am Ende....“ (freies Zitat) Und an der Stelle kommt noch etwas anderes hinzu, gerade streng an der deiner Frage orientiert: Was erlebten junge Intellektuelle wie Gehlen oder Schelsky in der Zwischenkriegszeit? Die Kulturnation und 2. stärkste Industriemacht Deutschland daniedergeworfen und ständig gedemütigt und und verunglimpft! Und von wem, vom plutokratischen Westen! Eingeklemmt zwischen plutokratischem Westen und der bolschwistischen Diktatur im Osten strebte man intellektuell einen 3. Weg, einen europäischen Weg an. Und was heute seltsamerweise vergessen wird: das war nicht eine Spielerei in Deutschland: Viele Intellektuelle in fast ganz Europa sahen das so: Skandinavien, Holland, Polen, die Südländer dazu in den Staaten der Nachfolge der KuK-Monarchie!

Aber zurück zu Gehlen: in welche Richtung sollten junge Wissenschaftler wie Gehlen und Co gehen wenn sie sich für eine Theorie des Sozialen interessieren, nachdem alles andere weggebrochen war? Sie orientierten sich an den Wurzeln: der deutschen Spätaufklärung Kant und Hegel und überbrückten den Gegensatz dazwischen: Was ist der Mensch? Was bedeutet das Wesen des Menschen für die Gemeinschaft und den Staat? – das und das nicht zu verleugnende Axiom des Mängelwesens Mensch! Da standen sie nicht im luftleeren Raum sondern knüpften an an der Anthropologie Machiavellis und an ihren italienischen Kollegen Mosca und Pareto – auch wenn die letzteren eher auf der sozialen Auflösungsebene der Eliten orientiert waren.

Also zu deiner Frage: man wirft Gehlen vor – er und die philosophischen Anthropologen hätte ein negatives Menschenbild gehabt – naja ich würde lieber sagen: Er hat ein realistisches Menschenbild gehabt, genau wie Platon oder Machiavelli. Und Luckmann/Berger sagen in ihrem soziologischen Standwerk auch auf der ersten Seite: „... da die meisten Menschen dumm sind....“ So ist es halt – was haben Theorien mit positiven Menschenbildern der Welt je gebracht?
Diktatur, Gulag, Massenvernichtung!! Und so ist es im Leben, das ist doch ein schönes Bsp für Philosophie, die im Alltag nützt: Ein reifer erwachsener Mensch weiß, dass die größten Gefahren dort lauern, wo Menschen vorgeben, „Gutmenschen“ und „sozial“ zu sein! Während wahre dauerhafte Freundschaft nur dort zu haben ist, wo man sich gegenseitig „ausgezogen hat“ wo man tief ins Tier des anderen geblickt hat, wo alle Instinkte auf dem Tisch lagen, und man sich versucht, zu bescheißen! Das erst sind reliable Freundschaften und Beziehungen!

Welcher Gehlen? Es gibt mehrere


dompfeifer  16.08.2012, 16:53

Vermutlich Arnold Karl Franz Gehlen, der Gegenspieler Adornos, und nicht Reinhard Gehlen, der Gegenspieler der Roten Armee.

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