Wer kann die Aussage von Immanuel Kant interpretieren?

6 Antworten

Die Echtheit des Zitats erscheint sehr zweifelhaft. Es wird Immanuel Kant zugeschrieben, aber es gibt keine Stellenangabe, wo eine solche Aussage in seinen Werken steht.

Zwar betont Kant einen moralphilosphischen/ethischen Vorrang der Pflicht vor der Glückseligkeit, aber er hält es für ein Ziel und ein erstrebenswertes Gut, glücklich zu sein. Die Bejahung der Pflicht ist wirklich von Kant vertreten worden, aber die völlige Verneinung des Gücksstrebens ist überzogen, und weicht, wie eine genauere Prüfung zeigt, von Kants Auffassung ab.

Zitatdeutung

Der Satz ist als Antithese (Gegensatz) aufgebaut. Die Aussage gibt an, was die Bestimmung bzw. die Aufgabe der Menschen ist. Es kann sogar an den Sinn des Lebens gedacht werden. Der erste Teil äußert eine Verneinung. Glück(seligkeit) wird als Bestimmung/Aufgabe/Sinn des Lebens abgelehnt. Der zweite Teil äußert eine Bejahung: Die Bestimmung/die Aufgabe/der Sinn des Lebens besteht in Pflichterfüllung.

Immanuel Kant hat eine Pflichtethik vertreten. Mit Pflicht ist dabei nicht etwas gemeint, das von außen durch Autorität als Vorschrift auferlegt wird, sondern eine innere Bindung eines vernunftbegabten Wesens an etwas, das von der Vernunft bestimmt ist und eingesehen wird. Bei Kant bedeutet Pflicht die innnere Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung vor dem (moralischen) Gesetz.

Pflicht betrifft damit etwas, das – unter moralischem Gesichtspunkt- sein soll. Weil dies nicht einen umfassenden Begriff des Guten ausmacht, ist die Zitataussage schlecht begründbar. Durch überzogene Darstellung des Standpunkts Kants geschieht eine Kant-Verfäschung, als ob er ein Ziel der Menschen, glücklich zu werden, ganz und gar verneint habe.

Interessant ist in diesem Zusammenhang Friedrich Schiller, Über Anmut und Würde (1793):

„In der Kantischen Moralphilosophie ist die Idee der Pflicht mit einer Härte vorgetragen, die alle Grazien davon zurückschreckt und einen schwachen Verstand leicht versuchen könnte, auf dem Wege einer finstern und mönchischen Ascetik die moralische Vollkommenheit zu suchen. Wie sehr sich auch der große Weltweise gegen diese Mißdeutung zu verwahren suchte, die seinem heitern und freien Geist unter allen gerade die empörendste sein muß, so hat er, däucht mir, doch selbst durch die strenge und grelle Entgegensetzung beider auf den Willen des Menschen wirkenden Principien einen starken (obgleich bei seiner Absicht vielleicht kaum zu vermeidenden) Anlaß dazu gegeben.“

echte Auffassung Kants

Das höchste Gut besteht nach Kants Auffassung in der Übereinstimmung von Glückseligkeit und Glückswürdigkeit.

 Kant versteht Glück(seligkeit) als ein empfundenes Wohlbefinden, als besonders hohe subjektive Zufriedenheit (kein objektives Wohlergehen). Glück stellt zwar nach seiner Auffassung ein Ziel dar, aber nach seiner Überzeugung ist Glück als Grundlage der Ethik ungeeignet. Sein Glück zu fördern, geschehe schon ganz natürlich aus Selbstliebe. Beim Erreichen des Glücks gelten Gebote der Klugheit. Diese stellen nur hypothetische Imperative dar. Die Bestimmungsgründe beim Prinzip der Selbstliebe wären nur subjektiv gültig und empirisch (einer zufälligen Erfahrung zu entnehmen), nicht objektiv und notwendig. Bestimmungsgründe sind Wünsche, Begierden, Neigungen und Ähnliches (Streben nach Annehmlichkeit, Gefühle der Lust, erwartetes Vergnügen).

Gründe, warum für Kant Glück nicht das oberste Gut sein kann:

  • Kants Begriff des Glücks/der Glückseligkeit als subjektive Zufriedenheit/Befriedigung von Wünschen und Neigungen 
  • Kants Begriff des an sich Guten als etwas allein formal/der Form nach Bestimmten (nämlich von der Form moralischer Gesetzlichkeit, die praktische Vernunft aufstellt und einsieht)

Kant trennt damit das an sich Gute und die Glückseligkeit. An die Stelle des Strebens nach einem inhaltlichen Ziel, das zu Glück beiträgt, tritt die Erfüllung der Pflicht.

Glück/Glückseligkeit erfüllt unter diesen Voraussetzungen die Anforderungen an ein oberstes Gut nicht:

  • kein uneingeschränktes Gutsein (Wünsche/Neigungen/Begierden, die zu etwas führen, das schlecht/unangenehm/schädlich ist)
  • keine Allgemeingültigkeit, sondern Vielfältigkeit und Veränderlichkeit mit aus der zufälligen Erfahrung stammenden Motiven/Bestimmungsgründen
  • keine Ojektivität
  • kein unbedingtes Gebot (von Zwecken bedingt und nur aus Klugheit gebotem, wenn diese Zwecke verfolgt werden; die Zwecke sind nicht Prinzipien eines Vernunftwesens, sondern werden vom Menschen als bloßes Naturwesen verfolgt)

oberstes Gut und höchstes Gut bei Kant:

Tugend (ein guter Wille, der mit Festigkeit und Stärke bei seinem Grundsatz bleibt; Festigkeit der Gesinnung, als eine Stärke des Willens, die Pflicht zu erfüllen) ist bei Kant das oberste, aber nicht das vollendete, höchste Gut. Beim höchsten Gut kommt zum obersten Gut eine Ergänzung hinzu, mit der erst das ganze Gut gegeben ist. Das höchste Gut besteht in der Übereinstimmung von Glückseligkeit und Glückswürdigkeit, bei der die Tugendhaften entsprechend ihrer Tugend belohnt werden.

Glückswürdigkeit bedeutet, Glückseligkeit verdient zu haben. Jemand ist aufgrund seines guten Handelns würdig, Glück zu genießen.

Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1. Auflage 1785. 2. Auflage 1786). Erster Abschnitt. Übergang von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis zur philosophischen. BA 11 – 12/ AA IV, 399:

„Seine eigene Glückseligkeit sichern, ist Pflicht (wenigstens indirekt), denn der Mangel der Zufriedenheit mit seinem Zustande, in einem Gedränge von vielen Sorgen und mitten unter unbefriedigten Bedürfnissen, könnte leicht eine große Versuchung zu Übertretung der Pflichten werden. Aber, auch ohne hier auf Pflicht zu sehen, haben alle Menschen schon von selbst die mächtigste und innigste Neigung zur Glückseligkeit, weil sich gerade in dieser Idee alle Neigungen zu einer Summe vereinigen.“

Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1788). Erster Teil. Elementarlehre der reinen praktischen Vernunft. Zweites Buch. Dialektik der reinen praktischen Vernunft. Zweites Hauptstück. Von der Dialektik der reinen Vernunft in Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut. A 198 – 199/AA V, 110 – 111:

„Daß Tugend (als die Würdigkeit glücklich zu sein) die oberste Bedingung alles dessen, was uns nur wünschenswert scheinen mag, mithin auch aller unserer Bewerbung um Glückseligkeit, mithin das oberste Gut sei, ist in der Analytik bewiesen worden. Darum ist sie aber noch nicht das ganze und vollendete Gut, als Gegenstand des Begehrungsvermögens vernünftiger endlicher Wesen; denn, um das zu sein, wird auch Glückseligkeit dazu erfodert, und zwar nicht bloß in den parteiischen Augen der Person, die sich selbst zum Zwecke macht, sondern selbst im Urteile einer unparteiischen Vernunft, die jene überhaupt in der Welt als Zweck an sich betrachtet. Denn der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber derselben nicht teilhaftig zu sein, kann mit dem vollkommenen Wollen eines vernünftigen Wesens, welches zugleich alle Gewalt hätte, wenn wir uns auch nur ein solches zum Versuche denken, gar nicht zusammen bestehen. So fern nun Tugend und Glückseligkeit zusammen den Besitz des höchsten Guts in einer Person, hiebei aber auch Glückseligkeit, ganz genau in Proportion der Sittlichkeit (als Wert der Person und deren Würdigkeit glücklich zu sein) ausgeteilt, das höchste Gut einer möglichen Welt ausmachen: so bedeutet dieses das Ganze, das vollendete Gute, worin doch Tugend immer, als Bedingung, das oberste Gut ist, weil es weiter keine Bedingung über sich hat, Glückseligkeit immer etwas, was dem, der sie besitzt, zwar angenehm, aber nicht für sich allein schlechterdings und in aller Rücksicht gut ist, sondern jederzeit das moralische gesetzmäßige Verhalten als Bedingung voraussetzt.“

Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1. Auflage 1785. 2. Auflage 1786). Zweiter Abschnitt. Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten. Eintheilung aller möglichen Principien der Sittlichkeit aus dem angenommenen Grundbegriffe der Heteronomie. AA IV, 442/BA 90 – 91 lehnt empirische Prinzipien als Grundlage der Moral überhaupt ab:

Empirische Prinzipien taugen überall nicht dazu, um moralische Gesetze darauf zu gründen. Denn die Allgemeinheit, mit der sie für alle vernünftige Wesen ohne Unterschied gelten sollen, die unbedingte praktische Nothwendigkeit, die ihnen dadurch auferlegt wird, fällt weg, wenn der Grund derselben von der besonderen Einrichtung der menschlichen Natur, oder den zufälligen Umständen hergenommen wird, darin sie gesetzt ist. Doch ist das Prinzip der eigenen Glückseligkeit am meisten verwerflich, nicht bloß deswegen weil es falsch ist, und die Erfahrung dem Vorgeben, als ob das Wohlbefinden sich jederzeit nach dem Wohlverhalten richte, widerspricht, auch nicht bloß weil es gar nichts zur Gründung der Sittlichkeit beiträgt, indem es ganz was anderes ist, einen glücklichen, als einen guten Menschen, und diesen klug und auf seinen Vorteil abgewitzt, als ihn tugendhaft zu machen: sondern weil es der Sittlichkeit Triebfedern unterlegt, die sie eher untergraben und ihre ganze Erhabenheit zernichten, indem sie die Bewegursachen zur Tugend mit denen zum Laster in eine Klasse stellen und nur den Kalkül besser ziehen lehren, den spezifischen Unterschied beider aber ganz und gar auslöschen;“

Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784). Dritter Satz. AA VIII 20:

„Es scheint aber der Natur darum gar nicht zu tun gewesen zu sein, daß er wohl lebe; sondern daß er sich so weit hervorarbeite, um sich durch sein Verhalten des Lebens und des Wohlbefindens würdig zu machen.“

Literatur zur Glückseligkeit bei Kant:

Ji Young Kang, Die allgemeine Glückseligkeit : zur systematischen Stellung und Funktionen der Glückseligkeit bei Kant. Berlin : De Gruyter, 2015 (Kant-Studien - Ergänzungshefte ; Heft 184). ISBN 978-3-11-042716-5

Olivia Mitscherlich-Schönherr, Glück bei Kant. In: Glück : ein interdisziplinäres Handbuch. Herausgeben von Dieter Thomä, Christoph Henning und Olivia Mitscherlich-Schönherr. Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2011, S. 183 - 188


NicolaB 
Beitragsersteller
 19.04.2023, 08:52

Vielen Dank für die ausführliche und interessante Darstellung. Eigentlich habe ich nicht gedacht, dass hier eine Person sich so gut mit Kant auskennt, dachte eher an alltägliche "Interpretationen".

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Das ist so wie mit Hitlers Autobahnen.

Kein Mensch hat immer nur Recht oder Unrecht.

Jeder sagt auch mal dummes Zeugs oder macht tolle Sachen, obwohl er böse ist.

zwecks Interpretation von Glück solltest du am besten Balladen von "Goethe" lesen - zwecks Interpretation von Pflichterfüllung die Laudatio bei der gestrigen Großordensüberreichung an die ehemalige langjährige Kanzlerin der BRD


NicolaB 
Beitragsersteller
 19.04.2023, 09:29

Dank für den Hinweis, kenne einige Balladen von Goethe. Auch habe ich die Laudatio gelesen.

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Kant ist für seine depressiven Ausagen bekannt. Ich halte nichts davon.

Ich weiss und 100% überzeugt davon, dass glückliche, zufriedene Menschen ihr Leben besser meistern.


NicolaB 
Beitragsersteller
 19.04.2023, 09:31

Auch ich stehen den depressiven Aussagen Kants kritisch gegenüber. Und glückliche Menschen haben es im Leben viel einfacher.

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Eine sehr polemische Aussage. Und ohne den nötigen Kontext auch nicht sinngemäss zu interpretieren - und mit Kants Aussagen und seiner philosophischen Interpretation der Aufklärung wurden schon ganze Bücher gefüllt ;-)