wenn eltern ihre behinderten kinder ins heim abgeben oder sowas sind sie dann schlechte eltern?

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Ich hatte einen Bruder mit Downsyndrom.

Der lebte bis ins Erwachsenenalter bei meinen Eltern im Haus. Meine Mutter hatte allerdings auch seine Betreuung quasi zu ihrem "Job" gemacht.

Das Leben mit meinem Bruder hatte gewisse Besonderheiten, war aber in anderen Aspekten auch völlig normal. Der Tagesablauf war so, dass man (Eltern) um 5 Uhr aufstehen musste, ihn beim Anziehen begleiten und seine Tasche packen musste und dann wurde er zwischen 6 und 7 Uhr mit dem Bus abgeholt und zur Schule, später Werkstatt, gebracht und kam zwischen 15 und 16 Uhr wieder. In der Zeit hatte man also "frei".

Meine Mutter hatte dann eine Art Förderprogramm für ihn, so dass sie oft zwischen 16 und 20 Uhr etwas mit ihm unternahm. Man hätte ihn aber auch zu Hause in Ruhe lassen können, er hätte sich dann mit Spielen und TV beschäftigt und hätte auch nichts vermisst. Abends musste man ihm lange Zeit ein Abendessen zubereiten, später (so ab 18 Jahre) konnte er das aber auch gut alleine. Er aß dann gern auch vor dem Fernseher alleine in seinem Zimmer, oder halt mit allen am Tisch. Phasenweise gab es nach dem Abendessen Brettspiele oder man sah fern. Das konnte er auch sehr gut alleine machen, manchmal gab es phasenweise Sendung, die meine Eltern dann mit ihm zusammen sahen (Trendsendungen), so dass man abends noch zusammen war.

Aufgaben, die man für ihn erledigen mussten, waren lange Zeit Anziehen (Hilfestellung), Hilfe beim Toilettengang (Saubermachen), ans Duschen erinnern, Kleidung waschen und sehr lange Aufräumen/ Zimmer säubern. Später konnte er das aber sehr gut und sehr penibel alleine machen.

Abgesehen davon hätte man ihn in Ruhe lassen können.
Meine Mutter initiierte aber ab ca. 18 Jahre jeden Morgen 5 min Förderung und teilweise auch nachmittags und abends Förderung. Diese bestand daraus, dass er Zahlen lernte, einzelne Wörter las, die Uhrzeiten lernte, lernte, sich selbst mit Hilfsmitteln die Schuhe zuzubinden, lernte, Badezimmerroutinen alleine zu erledigen im Rahmen des körperlich möglichen, deutlicher sprach, höflicher sprach (das war vorher eher vernachlässigt worden), sich selbst etwas zu Essen zubereitete (belegtes Brot etc., kein Kochen), sein Zimmer aufgeräumt hielt (darin war er dann später eher überpenibel. Fremde durften sich nicht aufs Bett setzen, weil das dann knautschte).

Seine Mitarbeiter in der Werkstatt kamen so nach und nach ins Wohnheim, was ihm eine Zeit lang große Angst machte. Er fragte dann immer nach, ob er auch ins Wohnheim müsste. Das aber vor allem, weil ein Mitarbeiter mit Behinderung seine Eltern verloren hatte und er die Vorstellung hatte, wenn die Eltern sterben oder sich trennen, müsste das Kind ins Wohnheim.

Er war dann ab ca. 20 Jahren ein paar Mal wenige Tage in einem Wohnheim, in dem er auch Bewohner kannte, wenn meine Eltern beruflich etc. verreisen mussten (im Urlaub kam er natürlich immer mit). Das waren anfangs nur 2 Tage. Wir merkten, dass er schon sehr spezielle Bedürfnisse hatte, sein Fernseher musste mit, diverses Spielzeug, er hatte sehr spezielle Tagesroutinen, bei denen er allein spielen musste, Routinen, die andere Bewohner so nicht hatten. Nach einiger Zeit freute er sich auf diese Aufenthalte, die ca. einmal alle 2 Jahre stattfanden, wollte aber zu Hause wohnen bleiben.

Von den Mitarbeitern mit Behinderung in der Werkstatt waren viele im Wohnheim ab ca. 18 bis 20 Jahren und die meisten fühlten sich dort sehr wohl. Man merkte auch, wenn man ihn brachte oder abholte, dass er dort die Möglichkeit hatte, auf eine Art zu kommunizieren, die zu Hause so nicht möglich war, mit den anderen Bewohnern eher rumzualbern auf eine Art, die wir nicht verstanden hätten.

Im Wohnheim gab es ein Mädchen, das auch mehrfach bei uns zu Hause zu Gast war, dessen Eltern fast nie kamen und sich gar nicht kümmerten. Andere bekamen nur einmal im Jahr Besuch und das störte sie nicht, weil das Wohnheim nun ihre Familie war. Wieder andere bekamen regelmäßig Besuch, waren auch im alten Elternhaus, unternahmen Ausflüge mit den Eltern usw. Das war also sehr unterschiedlich.

Was man bedenken muss und was wohl oft ein Problem war: Wenn ein "Kind" sehr viel körperliche Unterstützung braucht und man älter wird und diese nicht mehr problemlos leisten kann, oder wenn ein "Kind" über den Tag verteilt sehr viel Unterstützung braucht und man das nur leisten könnte, wenn man nicht oder nur vormittags arbeitet, dann schafft man das irgendwann altersbedingt (Eltern) nicht mehr und braucht Entlastung. Besonders, wenn man mehr als ein Kind mit besonderen Bedürfnissen hat (nicht nur Behinderung, auch Lernbehinderung, chronische Krankheit etc.).

Und für viele Betroffene (Behinderte) ist es auch sinnvoll, dann ins Wohnheim zu ziehen, wenn es den Eltern noch gut geht, wenn sie sie noch besuchen können, mal mit in Urlaub fahren können etc. Denn wenn dann wirklich mal ein oder beide Elternteile ins Krankenhaus kommen oder altersbedingt keine Unterstützung mehr leisten können oder sogar sterben, ändert sich für das Kind nicht alles auf einmal, es hat dann schon eine Zweitfamilie, in der es sich geborgen fühlt. Stelle dir vor, du lebst jahrzehntelang im Elternhaus und dann werden die Eltern krank oder gebrechlich und du musst Schlag auf Schlag ausziehen, zu Fremden, mit fremden Routinen und merkst, dass deine Eltern auch anders sind als vorher, nicht mehr so viel Zeit haben oder gar keine Zeit, weil sie sich um sich selbst kümmern müssen.

Da wäre es besser, du hättest schon ein Zweitzuhause mit Menschen, die du gut kennst, mit Routinen, die du gut kennst, mit vertrauter Umgebung und mit Betreuern, die dich in so einer Situation auffangen können. Idealerweise nach einer langsamen Ablösung vom Elternhaus, mit sehr viel Kontakt am Anfang, dann mal weniger Kontakt, aber ohne kompletten Kontaktabbruch.


JanRuRhe  13.08.2020, 07:34

Was für eine tolle Familie ihr seid! Mit der Einstellung von dir und deinen Eltern - vor allem deiner Mutter - scheint ein bisschen mehr die Sonne. Ich habe Tränen in den Augen, du hast den Tag für mich gut starten lassen. Davon- wie respekt- und liebevoll und dennoch sachlich du über deinen Bruder und die Lösung seiner Probleme schreibst und was ich da hinter vermute- können sich die Allermeisten eine Scheibe abschneiden!

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Volkerfant  13.08.2020, 09:24
@JanRuRhe

JanRuRhe, ich bin genau deiner Meinung, mir kamen auch die ein paar Tränchen beim Lesen. Eine vorbildliche Familie, aber die Mutter sehr aufopferungsvoll und umsichtig und weitsichtig!

Ich kenne eine kinderlose Familie, die vor ein paar Jahren ein Kind mit Downsyndrom adoptiert haben. Dieses Kind wächst in der Familie auf und die Eltern lassen nichts unversucht, um das Kind zu fördern. Aber es ist noch klein, geht grad mal in die Schule und bekomme die Fortschritte immer mitgeteilt, das ist so schön. Ich denke, es ist eine Lebensaufgabe.

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LauraYupp 
Beitragsersteller
 13.08.2020, 07:32

und ist er dann gestorben? weil du sagst, hattest!?

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Tasha  13.08.2020, 08:14
@LauraYupp

Ja, leider starb er unerwartet mit 30 Jahren an Sauerstoffmangel im Blut. Wir hatten noch 3 Wochen Krankenhaus mit ihm, in denen er ab dem 2. Tag 24/7 von uns betreut wurde, was uns an die Grenzen der Belastung brachte. Er starb dann leider trotz der 3 Wochen Aufenthalt für uns völlig unerwartet, man wurde von den Ärzten nicht darauf vorbereitet, obwohl die es wohl seit dem ersten Tag wussten. Erst in den letzten 5 Tagen wurde uns klar, dass er ohne Sauerstoff nicht mehr überleben würde und dass er immer mehr abbaute.

Geistig Behinderte im Krankenhaus ist wohl auch so ein Thema für sich, auf das nicht jeder vorbereitet wird (Ärzte, Pfleger). Auf der Intensivstation konnten wir mal das "Berichtsheft" sehen, da stand, "die Familie bringt ihn zum Sprechen". Über einen Menschen, der bei Gesundheit begeistert mit jedem in Hörweite kommuniziert hätte, egal ob Bekannter oder Fremder.

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Ein Kind, einen Jugendlichen, einen Erwachsenen in ein entsprechendes Wohnheim zu geben (eines in dem auch andere Kinder/ Jugendliche/ Erwachsene mit Behinderungen leben) bedeutet einen großen Schritt für alle Beteiligten.

Zum einen hat der behinderte Mensch dadurch die Möglichkeit zu erleben "He, ich bin kein Einzelfall, es gibt auch andere die so sind wie ich". Zum anderen erlebt die betroffene Person dort Betreuer die sich "mit der Materie" auskennen und ihn "dort abholen können wo er aktuell steht". Sprich, Alltagsbewältigung gemeinsam üben, und und und.

Ein behindertes Kind aufzuziehen kann die Eltern durchaus an ihre Grenzen bringen. Und wenn man irgendwann an einem Punkt angekommen ist an dem man "einfach nicht mehr kann", dann ists definitiv sinnvoll sich Hilfe zu holen.

"Um den behinderten Nachwuchs kümmern solange man lebt" ist kaum umsetzbar. Wenn die Mutter aufgrund von irgendwas selbst pflegebedürftig wird, oder durch das eigne Alter nicht mehr kann..... dann bleibt eben nur noch die geeignetere Lösung Wohnheim für den betroffenen Nachwuchs.

Edit: Ich hab das Abschlussjahr meiner Ausbildung in einem Wohnheim der Lebenshilfe absolviert.

Die Bewohner hatten die unterschiedlichsten Behinderungen. Einige von ihnen hatten Trisomie 21.

Woher ich das weiß:Berufserfahrung

Wenn Eltern überfordert sind, dann ist es das Verantwortungsvollste, was sie tun können. Und das gilt für behinderte und nichtbehinderte Kinder. Nämlich ihre Kinder in Obhut zu geben.

Man sollte den Grund betrachten:

Wenn ein Kind im Heim besseren Anschluss zu gleichaltrigen, Bildung, Fürsorge, Sport etc. hat und die Eltern ihr Kind schweren Herzens ausziehen lassen, dann sind es denke ich keine schlechten Eltern.

Ich denke schlechte Eltern sind jene die sich nicht um ihr Kind kümmern WOLLEN bzw. keine Liebe zeigen.


Tasha  13.08.2020, 07:00

Bildung und Sport kann ich leider so nicht bestätigen. Ich habe beobachtet, wenn Menschen mit Behinderung, die in der geschützten Werkstatt arbeiteten, ins Wohnheim zogen, waren viele bald extrem fett, liefen mit Zahnlücken herum, bekamen eine schlechte Körperhaltung. Credo des Wohnheims war wohl, dass man niemanden zu etwas zwingt, das er nicht möchte. Und das Taschengeld wurde dann aufgeteilt auf Dinge, die man kaufen musste wie Duschgel etc. und Süßigkeiten, die man sich alleine im Ort kaufen konnte. Besonders, wenn man nicht lesen konnte, gab es sonst wenige Hobbys, für die man Geld ausgeben konnte.

Seitens des Wohnheims, das ich kennenlernte, mit sehr guten, bemühten Betreuern, gab es die Richtlinie, dass man die Bewohner so viel wie möglich alleine entscheiden ließ. Das führte auch zu grenzwertigen Entscheidungen, wie etwa jemandem im Winter mal im Schlafanzug loszuschicken, weil er sich nicht rechtzeitig angezogen hatte, oder Zahnbehandlungen auszusetzen, wenn der Bewohner Angst vor dem Zahnarzt hatte oder halt nicht gegenzusteuern, wenn jemand extrem Gewicht zulegte (und damit meine ich, in wenigen Monaten bis Jahren von ca. 50 bis 70 kg auf vermutlich der 100 kg hochzugehen und sich nur noch behäbig bewegen zu können). Das lief dann für die Betreuer unter Freiheit und Selbstbestimmung der Bewohner.

Bildung fand eher bei den AGs in der Werkstatt statt. Die waren aber auch freiwillig und nicht jeder hatte die gleichen Voraussetzungen. Einige konnten lesen, andere nicht usw.

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LauraYupp 
Beitragsersteller
 13.08.2020, 06:28

also wenn die eltern quasi das kind hassen und dann kein bock mehr haben?

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Es kommt auf die Einrichtung an..Viele bieten einr sinvolle Tsgrstruktur, zb Arbeitraining,um das Selbstvertrauen zu stärken.Vielmehr gibt es dort peodessionelle Betreuung.Die Tochter vob meinem Partnee hat das Downsyndrom und freut sich jedesmal nach einem Wochenende wieder dorthin zurückkehren.lg