Was sagt diese Karikatur von Bismarck aus?
Darunter steht: Friss Vogel, oder stirb !
1 Antwort
Die Karikatur ist aus der politisch-satirischen Zeitschrift Kladderadatsch, 31. Jahrgang, Nr. 39, 25. August 1878, S. 156 (Seitenzahl nicht auf der Seite aufgedruckt).
https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/kla1878/0426
https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/kla1878/0426/scroll
Beschreibung
Die Bildüberschrift heißt „Reichstags-Prognostikon“.
Ein großer älterer Mann sitzt mit nach vorne ausgestreckten Beinen am Boden, Er trägt eine Anzugsjacke/einen Frack mit Manschetten an den Ärmeln, Hose und dunke Schuhe. Der Mann hat eine massigen, hohen und breiten Kopf, eine Stirnglatze, buschige Augenbauen, Haupthaar am Hinterkopf und oben drei aufgerichtete Haare, Tränensäcke unter den Augen, eine Knollennase und trägt einen buschigen, nach unten hängenden, walrossartigen Schnauzbart. An seinem Mund hängt quer – anscheinend mit den Zähnen gepackt – ein langes Messer mit der Aufschrift „Auflösung“ am Griff. Ihm gegenüber befindet sich eine große weiße Gans mit der Aufschrift „Reichstag“ am Rumpf. Ihre Flügel sind aufgerichtet. Der Mann hat sie mit seiner linken Hand fest zudrückend am Hals gepackt. Der Hals ist nach oben geschoben und der Schnabel aufgehalten. Der Mann stopft zum Füttern Papiere mit der Aufschrift „Ausnahmegesetze“ hinein. Das Vorgehen ähnelt einem »Gänsestopfen«, einer Zwangsernährung von Gänsen zu ihrer Mast auf unnatürliche und ungesunde Weise.
Die Bildunterschrift ist „Friß, Vogel, oder stirb!"
Deutung
Der Mann ist der Reichskanzler Otto von Bismarck.
Die drei aufgerichteten Haare am Kopf sind vom Kladderadatsch-Zeichner Wilhelm Scholz als typische Darstellung für einen angriffslustigen Bismarck eingeführt worden.
Bismarck hatte 1878 Attentate auf den Kaiser als Vorwände genutzt, im Reichstag Gesetzentwürfe gegen sozialdemokratische, sozialistische und kommunistische Bestrebungen einzubringen. Diese Gesetzesentwürfe waren Ausnahmegesetze gegen eine bestimmte politische Richtung.
Ein am 23. Mai 1878 eingebrachter Gesetzesentwurf erhielt keine mehrheitliche Zustimmung im Reichstag und scheiterte am 24. Mai 1878 vor allem am Widerstand der Liberalen.
Nach einem zweiten Attentat haben Bundesrat und Kaiser auf Wunsch Bismracks am 11. Juni 1878 den Reichstag aufgelöst. Am 30. Juli 1878 hat eine neue Reichstagswahl stattgefunden. Dabei hatten die Konservativen Zugewinne, die Liberalen, Sozialdemokraten und das Zentrum Verluste.
Am 19. Oktober hat der Reichstag mehrheitlich das »Sozialistengesetz« („Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“) beschlossen, am 21. Oktober 1878 stimmte der Bundesrat zu und der Kaiser unterzeichnete es, am 22. Oktober 1878 trat es in Kraft.
https://de.wikipedia.org/wiki/Sozialistengesetz
https://www.dhm.de/lemo/kapitel/kaiserreich/innenpolitik/sozialistengesetz
Die Karikatur gibt eine Darstellung, wie Bismarck den Reichstag unter Druck setzt, seinem Gesetzesentwurf zuzustimmen.
Der Deutungsspielraum für Bestrebungen, die den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung bezweckten, war groß, schon die Absicht einer deutlichen Veränderung konnte als strafbar eingeordnet werden und es war für Erlaubtheit und Nichterlaubtheit nicht ausschlaggebend, auf welche Weise Ziel verfolgt wurden.
Das »Sozialistengesetz« hat in mehrere Grundrechte eingegriffen: persönliche Freiheit, Meinungs- und Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit.
Dem Ausnahmegesetz, das in Gegensatz zun Grundsätze eines freiheitlichen Rechststaates stand, hat neben den Konservativen ein Großteil der Nationalliberalen zugestimmt, die zunächst gegen einen solchen Gesetzesentwurf gewesen waren.
Ein Prognostikon (griechisch προγνωστικόν = Vorzeichen; etwas, das zum Vorherwissen/Voraussagen gehört; vgl. das Fremdwort »Prognose«) ist ein Vorauswissen bzw. Voraussage über einen voraussichtlichen Verlauf.
In der Karikatur erscheint der Reichstag als Opfer, das den Vorgang erleidet. Bismarck droht mit einer weiteren Reichstagsauflösung im Fall einer Ablehnung des Geestzesentwurfs. Die Redensart „Friß, Vogel, oder stirb!" drückt aus, außer einem Zustimmen und Hinnehmen keine andere Wahl als den Untergang zu lassen. Bei einer aufgeregten und gefühlsbeladenen Stimmung mit vielen Leuten, die scharfe Maßnahmen gegen Sozialdemokraten waren die Liberalen in einer schlechten Lage, wie das Wahlergebnis nach der Reichstagsauflösung gezeigt hatte.
Das wollt ich auch sagen