Was meint Nietzsche mit der "Siebenten Einsamkeit"?

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Ein Stück weit kann die Rede von einer siebten Einsamkeit mit der besonderen Bedeutung der Siebenzahl in der Zahlensymbolik erklärt werden. Die Sieben kommt als religiös heilige Zahl vor (z. B. Erzählung einer Erschaffung der Welt an sechs Tagen und einem siebtenTag, an dem Gott ruht) und bildet vielfach eine abgeschlossene Gruppe von Dingen (z. B. sieben Weltwunder, sieben Todsünden, siebter Himmel)

Friedrich Nietzsche, Dionysos-Dithyramben, gibt vor der Erwähnung einer siebten Einsamkeit an, Zarathustra kenne schon sechs Einsamkeiten.

„Das Feuerzeichen

Hier, wo zwischen Meeren die Insel wuchs,

ein Opferstein jäh hinaufgethürmt,

hier zündet sich unter schwarzem Himmel

Zarathustra seine Höhenfeuer an,

Feuerzeichen für verschlagne Schiffer,

Fragezeichen für Solche, die Antwort haben…

Diese Flamme mit weissgrauem Bauche

— in kalte Fernen züngelt ihre Gier,

nach immer reineren Höhn biegt sie den Hals —

eine Schlange gerad aufgerichtet vor Ungeduld:

dieses Zeichen stellte ich vor mich hin.

Meine Seele selber ist diese Flamme,

unersättlich nach neuen Fernen

lodert aufwärts, aufwärts ihre stille Gluth.

Was floh Zarathustra vor Thier und Menschen?

Was entlief er jäh allem festen Lande?

Sechs Einsamkeiten kennt er schon —,

aber das Meer selbst war nicht genug ihm einsam,

die Insel liess ihn steigen, auf dem Berg wurde er zur Flamme,

nach einer siebenten Einsamkeit

wirft er suchend jetzt die Angel über sein Haupt.

Verschlagne Schiffer! Trümmer alter Sterne!

Ihr Meere der Zukunft! Unausgeforschte Himmel!

nach allem Einsamen werfe ich jetzt die Angel:

gebt Antwort auf die Ungeduld der Flamme,

fangt mir, dem Fischer auf hohen Bergen,

meine siebente letzte Einsamkeit! — —“

Nietzsche bezieht sich bei der Nennung einer Mehrzahl von Einsamkeiten auch auf Gründe für eine Einsamkeit, wobei in den veröffentlichten Schriften die Unterscheidungen wechseln und eine strenge systematsche Folgerichtigkeit der Gedanken kaum zu entdecken ist.

Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft. („la gaya scienza“) Neue Ausgabe

mit einem Anhange: Lieder des Prinzen Vogelfrei (1887). Buch 4. 309.

„Aus der siebenten Einsamkeit. — Eines Tages warf der Wanderer eine Thür hinter sich zu, blieb stehen und weinte. Dann sagte er: „Dieser Hang und Drang zum Wahren, Wirklichen, Un-Scheinbaren, Gewissen! Wie bin ich ihm böse! Warum folgt mir gerade dieser düstere und leidenschaftliche Treiber! Ich möchte ausruhen, aber er lässt es nicht zu. Wie Vieles verführt mich nicht, zu verweilen! Es giebt überall Gärten Armidens für mich: und daher immer neue Losreissungen und neue Bitternisse des Herzens! Ich muss den Fuss weiter heben, diesen müden, verwundeten Fuss: und weil ich muss, so habe ich oft für das Schönste, das mich nicht halten konnte, einen grimmigen Rückblick, — weil es mich nicht halten konnte!““

Es gibt Hinweise in den nachgelassenen Fragmenten aus dem Jahr 1883 und dabei listet 16 [64] sieben inhaltlich unterschiedene Einsamkeiten auf.

Die siebte Einsamkeit ist als letzte, höchste, unüberbietbare Einsamkeit gemeint, eine Einsamkeit des leidenden Kranken.  

Nachgelassene Fragmente 1883 16 [3]

„Act I. Einsamkeit aus Scham vor sich: Ein unausgesprochener Gedanke, dem er sich zu schwach fühlt (zu wenig hart) Die Versuchungen, ihn darüber zu täuschen. Die Boten des ausgewählten Volks laden ihn zum Feste des Lebens.

Act II. Er wohnt incognito dem Feste bei. Er verräth sich, als er sich zu geehrt findet.

Act III. Im Glück verkündet er den Übermenschen und dessen Lehre. Alle fallen ab. Er stirbt, als die Vision ihn verläßt, vor Schmerz darüber, welches Leid er geschaffen.

Todtenfeier. „Wir tödteten ihn“ — Mittag und Ewigkeit.“

16 [9]

„„Dies sind die Reden Zarathustra’s von den sieben Einsamkeiten“ —: darin soll dargestellt werden, wie die Noth parallel wächst mit dem Glücke. Das Schenken, so wie das Schaffen zeigt sein andres Gesicht. Die Härte in der Tugend: die Qual in Mitleid und Gerechtigkeit: die Vereinsamung und Heimatlosigkeit für den Freund der Kommenden: das Schaffen als ein Zaubern bringt eine Entzauberung mit sich in Bezug auf alles, was da ist: die Unlust an den höchsten Exemplaren entfremdet uns denen, an welchen doch gearbeitet werden muß: usw.“

16 [40]

„Es handelt sich um mehr als Schenken: um Schaffen, um Vergewaltigen! Grundgedanke der zweiten Einsamkeit (Beginn vom III.)

Unsere „Geschenke“ sind gefährlich!“

16 [64]

„1. Die Einsamkeit in Scham und Schwäche und Schweigen vor einem großen Gedanken.

Wozu Wahrheit!

2. Die Einsamkeit, der alle alten Trostgründe abhanden gekommen sind.

3. Die Einsamkeit mit den Versuchungen.

4. Die Einsamkeit ohne Freunde, ja mit dem Bewußtsein, die Freunde zu opfern.

5. Die Einsamkeit der höchsten Verantwortlichkeit.

6. Die Einsamkeit in der Ewigkeit, jenseits der Moral: der Schöpferische und die Güte. Es giebt keine Lösung als ein anderes Wesen zu schaffen, das nicht so leidet wie wir.

Determinism: „Ich bin für alles Kommende ein fatum!“ — ist meine Antwort auf Determinismus!

7. Die Einsamkeit des Kranken. Trostlied. Müdewerden, Stillwerden. Geheiligt durch Leiden.

13 S<eiten> jede. Jedes Mal der überwindende Gedanke am Schluß.

NB. Alle Bedenken sind Zeichen des Willens zum Leiden, ein Vertiefen des Schmerzes: als der Schmerz am höchsten ist, wirft ihn Z<arathustra> ab:

größter Schluß-Moment (der Löwe): ich will!!!

 

Hymnus am Ende: der Siegreiche. (10 Seiten)“


Nordwendekreis 
Beitragsersteller
 03.09.2021, 18:45

VIELEN VIELEN DANK für die ausführliche Antwort <3

Zarathustra und Dionysos Dithyramben hab ich schon gelesen, die fröhliche Wissenschafft noch nicht (wobei sie hier auch meiner Meinung nach wenig Aufschluss gibt). Das Fragment dagegen ist sehr gut, ich lese mir jetzt mal die ganze Gruppe 1883 16 durch, danke :*

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