Was ist thermodynamisch und kinetisch stabil?

1 Antwort

Von Experte Miraculix84 bestätigt

Das ist grundsätzlich alles richtig, wie Du es hier beschreibst.

Thermodynamisch stabil bedeutet, daß ein Stoff nicht reagiert weil er nicht kann: Es gibt nämlich keinen Reaktionskanal, durch den ΔG weiter abgesenkt werden könnte. Wasser ist z.B. thermodynamisch stabil — es kann mit nichts reagieren, was so im täglichen Leben auf der Erdoberfläche vorkommt. Insbesondere kann es nicht von sich aus in die Elemente zerfallen oder sonst irgendeine Reaktion mit sich selbst ein­gehen, etwas in der Art von dem hypothetischen 2 H₂O ⟶ H₂ + H₂O₂. Diese Reaktion würde ja das ΔG erhöhen und kann deshalb nicht ablaufen.

Umgekehrt ist z.B. Thioschwefelsäure H₂S₂O₃ instabil und kann spontan in S+​H₂O+​SO₂ zerfallen; bei Raumteperatur geschieht das in ein paar Minuten. Dagegen kann man sich nur schützen, indem man sie beim Eisfach lagert, weil dort weniger ther­mi­sche Energie zu haben ist und der Zerfall daher stark verlangsamt ist — thermo­dyna­misch sollte sie bei jeder Temperatur zerfallen, aber durch Kühlung wird das ver­lang­samt, sie wird also kinetisch stabil (metastabil). Sie will also zerfallen, kann es aber nicht.

Manche Reaktionen sind über einen weiten Temperaturbereich so saulangsam, daß man sie überhaupt nicht bemerkt, und dann ist „kinetisch stabil“ praktisch fast gleich­wertig zu „thermodynamisch stabil“. So sollten so gut wie alle organischen Substan­zen instabil gegenüber Oxidation sein und an der Luft lebhaft verbrennen; manche wie Benzol könnten sogar spontan in die Ele­mente zerfallen. Trotzdem kann man das Zeug jahrhundertelang herumstehen haben, ohne daß etwas passiert. Es könnte aber einen Katalysator geben, der diese Reaktio­nen beschleunigt, und dann würde man dumm aus der Wäsche schauen.


Benutzer081102 
Beitragsersteller
 02.04.2024, 17:56

Erstmal vielen Dank für die detaillierte Antwort. Allerdings versteh ich jetzt die Definitionen immer noch nicht so ganz. Ich dachte "kinetisch stabil" reagiert kaum bzw. sehr langsam, weil die Ea zu groß ist. Bedeutet das jetzt, dass kinetisch stabil reagiert und thermodynamisch stabil nicht, da Delta G nicht herabgesetzt werden kann? Und bedeutet das, dass Thioschwefelsäure kinetisch stabil ist, sie braucht ganz lange um zu zerfallen aber sie zerfällt/reagiert? Das macht sie in dem Fall thermodynamisch instabil? Kann man also grob sagen thermodynamisch stabil reagiert nicht kinetisch stabil schon? Dann hab ich noch eine Frage: Und zwar verstehe ich nicht wieso, wenn die Entropie ein Maximum bei therm. stabil hat, dann Delta G trotzdem nicht negativ ist. Ist Delta H dann zu hoch? Bedeutet außerdem, dass die "fehlende Triebkraft" bei therm. stabil ein fehlendes Streben nach max. Entropie/minimaler Energie ist?

indiachinacook  02.04.2024, 18:51
@Benutzer081102

Das sage ich doch:

  • „Thermodynamisch stabil“ reagiert nicht, weil es nicht kann. Das ΔG der hypo­the­ti­schen Reaktion ist positiv, also kann die Reaktion nicht ablaufen, weil die Trieb­kraft (=Er­nied­ri­gung von ΔG) dazu fehlt. Steine rollen ja auch nicht auf Berggipfel, warum sollten sie?
  • „Kinetisch stabil“ kann reagieren, will es aber nicht, weil die Aktivierungs­ener­gie zu hoch ist. Was „zu hoch“ ist, hängt von der thermischen Energie bzw. der Tem­pe­ra­tur ab, und wenn man genug drunterheizt, dann wird es irgendwann ein­mal re­agie­ren (außer, wenn bei hoher Temperatur sowieso etwas ganz an­de­res pas­siert). Mög­licher­weise gibt es aber einen Katalysator, der die Re­ak­tion auch bei tiefen Temperaturen ermöglicht.

Deine zweite Nachfrage ist irgendwie unklar. Kannst Du ein Beispiel geben?

Benutzer081102 
Beitragsersteller
 02.04.2024, 19:01
@indiachinacook

Nochmals danke! :) Also ich dachte, dass bei thermodynamisch stabil unteranderem bedeutet, dass die Entropie ein Maximum erreicht hat. Warum ist dann aber Delta G nicht negativ, wenn doch die Entropie so hoch ist. Laut Formel Delta G = Delta H - T*Delta S heißt das dann also, dass Delta H so hoch ist, dass Delta G nicht negativ ist? Und meine andere Frage war noch: was bedeutet "Triebkraft" genau? Bzw. bedeutet Triebkraft das Streben nach max. Entropie/minimaler Energie?

indiachinacook  02.04.2024, 19:19
@Benutzer081102

Das wird jetzt ziemlich fundamental. Im Prinzip heißt „Triebkraft“ tatsächlich nichts anderes als „Entropievermehrung“, aber man muß aufpassen, von welcher Entropie man redet.

Wenn z.B. ein Salz aus einer übersättigten Lösung auskristallisiert, dann ver­min­dert sich seine Entropie (die Kristalle sind ja viel geordneter als die Lösung, wo jedes Ion nach Her­zens­lust hin- und herflitzen kann). Aber gleichzeitig wird auch Kri­stal­li­sa­ti­ons­wär­me ΔH frei (das kannst Du leicht in einem Taschenwärmer mit über­sät­tig­ter Na­tri­um­ace­tat­lösung fest­stellen), und diese Wärme fließt irgendwo hin — in den Rest der Lösung, oder in die Umgebung — und erhöht dort die Tem­pe­ra­tur. Damit wird aber auch die En­tro­pie der Um­ge­bung um −ΔH/T erhöht, und das ist mehr, als sie in den Salz­kri­stal­len sinkt.

Wenn man also sagt „Triebkraft=Entropieerhöhung”, dann meint man die Entropie von Sy­stem plus Um­ge­bung. Damit man die Umgebung loswird, haben die Ther­mo­dyna­mi­ker das ΔG er­fun­den — das ist so definiert, daß man es nur aus Größen des Sy­stems be­rech­nen kann, aber letzt­lich ist es äquivalent zur Gesamt­entro­pie­ände­rung (wenn eine Re­ak­tion ΔG freie En­er­gie umsetzt, dann ändert sich die En­tro­pie von System plus Um­ge­bung um −ΔG/T). Letzt­lich ist ΔG also nur eine ver­kapp­te Gesamtentropie:

ΔG = ΔH − TΔS
−ΔG/T = −ΔH/T + ΔS

Die Entropie des Systems verändert sich um ΔS, und die der Umgebung um −ΔH/T (Entropie ist ja ausgetauschte Wärme durch Temperatur).

Benutzer081102 
Beitragsersteller
 02.04.2024, 19:30
@indiachinacook

Dankeschön für die tolle Erklärung. Eine Frage noch: was würdest du sagen: ist chlorknallgas kinetisch oder thermodynamisch stabil?

indiachinacook  02.04.2024, 19:38
@Benutzer081102

Chlorknallgas oder auch gewöhnliches Knallgas ist kinetisch stabil (bei Raumtemperatur, und im Fall von Chlorknallgas nur im Dunklen), es kann ja offensichtlich reagieren.