Was ist nach Walter Benjamins Auffassung das dialektische Bild?

1 Antwort

„Nicht so ist es, daß das Vergange sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern das Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit anderen Worten: Bild ist Dialektik im Stillstand. Denn während die Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit eine rein zeitliche, kontinuierliche ist, ist die des Gewesenen zum Jetzt dialektisch: ist nicht Verlauf sondern Bild, sprunghaft. - Nur dialektische Bilder sind echte (d.h. nicht archaische) Bilder; und den Ort, an dem man sie antrifft, ist die Sprache.

(…) Zum Denken gehört ebenso die Bewegung wie das Stillstellen der Gedanken. Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation zum Stillstand kommt, da erscheint das dialektische Bild. Es ist die Zäsur der Denkbewegung. Ihre Stelle ist natürlich keine beliebige. Sie ist, mit einem Wort, da zu suchen, wo die Spannung zwischen den dialektischen Gegensätzen am größten ist. Demnach ist der in der materialistischen Geschichtsdarstellung konstruierte Gegenstand selber das dialektische Bild. Es ist identisch mit dem historischen Gegenstand; es rechtfertigt seine Absprengung aus dem Kontinuum des Geschichtsverlaufs.“

Walter Benjamin: Das Passagen-Werk [N 2 a, 3 und N 10 a, 3]: Erkenntnistheoretisches, Theorie des Fortschritts. In: Rolf Tiedemann (Hg.): Walter Benjamin - Gesammelte Schriften, Band V.1, Frankfurt am Main 1991, S. 576f. und 595.

Nach Hegel und Marx ist Dialektik Prozess nach bestimmten Regeln. Darin ist Zeit natürlich das Maß des prozesshaften Voranschreitens oder die Orientierung, nach der man den Prozess rückwärts betrachtet. Benjamin drückt das im ersten Satz „blumig“ aus. Dann seine Gegendefinition: Bild ist Dialektik im Stillstand. Das widerspricht der Definition von Dialektik z.B. im realen historischen Prozess. Allerdings fügt Benjamin dann an: „den Ort, an dem man sie antrifft, ist die Sprache“ – Dialektik jedoch vollzieht sich in der Realität und Sprache ist nur Vorstellung und Interpretation. Offensichtlich geht es hier nicht um Realität, die im dialektischen Prozess kontinuierliche Zeit einschließt sondern um gedankliche Interpretation. D.h. „Bild“ ist für Benjamin offensichtlich ein Synonym für „gedankliche Vorstellung“, aber nicht einen Gegenstand betreffend sondern eine komplexe Vorstellung wie „Machtgefüge“ und eingebunden in das Bild „Machtgefüge“ ist z.B. eine Herleitung des kausalen Zusammenhangs in stichpunktartigen Schritten.

Der gedankliche Nachvollzug eines realen historischen Ablaufs ist nicht der historische Ablauf selbst. Er ist und bleibt Interpretation, Vorstellung, ein Gedankenbild. Das wird klar in dem Satz: „Demnach ist der in der materialistischen Geschichtsdarstellung konstruierte Gegenstand selber das dialektische Bild.“** Das dialektische Bild ist eine Konstruktion!** Geheimnis Benjamins bleibt, wie er dann zu der Behauptung kommt: „Es ist identisch mit dem historischen Gegenstand.“ Das scheint mir, ist marxistisches Dogma der Aussage: Unsere konstruierte Theorie ist identisch mit Wahrheit. Die konsequente Forderung würde lauten, dass die „dialektischen Maler“ den Beweis antreten, dass sie mit ihren Begriffsbildern auch die Wirklichkeit getroffen haben. Da bleibt Benjamin bei dogmatischen Behauptungen stehen.


djyjj 
Beitragsersteller
 30.06.2014, 19:41

Vielen Dank! :)

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