Was ist mit diesem Zitat gemeint - Voltaire?

6 Antworten

Das Voltaire (eigentlich: François-Marie Arouet) zugeschriebene Zitat ist keine richtige Wiedergabe von dem, was er geschrieben hat.

Bei einer Aussage „Geschichtsschreibung ist die Übereinkunft zu einer Lüge“ (oder: „Geschichte ist die Lüge, auf die man sich geeinigt hat.“ bzw. „Geschichtsschreibung ist eine allgemein anerkannte Lüge.“) läge eine Behauptung vor, Geschichtsschreibung sei ihrem Wesen nach eine Lüge, über die eine Übereinkunft/Abmachung/Absprache/Vereinbarung/Einigung zustandegekommen ist. Nach einer solchen Auffassung wäre jede Geschichtsschreibung eine Lüge. Denn der Satz ist als eine allgemeine Begriffsbestimmung formuliert (wie eine Antwort auf die Frage: Was ist Geschichtsschreibung?).

Eine Lüge ist eine absichtliche Unwahrheit. Geschichtschreibung wäre demnach immer eine absichtliche Verfälschung. Dies wäre aber eine überzogene Aussage. Pauschal alles als Lüge einzustufen, ist eine unangebrachte Unterstellung, die gar keine kritische Unterscheidungsfähigkeit einsetzt.

Verfälschung von Geschichte (vergangener Wirklichkeit, wie sie tatsächlich gewesen ist) geschieht. Es wird etwas weggelassen, etwas Erfundenes hinzugefügt, es werden Zusammenhänge verdreht. Abweichen von der Wahrheit kann aufgrund von Interessen stattfinden, aufgrund weltanschaulicher Standpunkte, in einem Eingehen auf Aufträge oder Wünsche. Indem andere Leute einer Darstellung zustimmen bzw. sie übernehmen, kann etwas die gängige Geschichte (allgemein oder weitgehend verbreitet) werden. Es kann Beeinflussung stattfinden, eine bestimmte Fassung durchzusetzen.

Allerdings versucht echte Geschichtschreibung, anhand von Quellen die Vergangenheit zu rekonstruieren. Dies ist eine verwickelte Angelegenheit. Eine allgemeine Aussage über eine Übereinkunft zu einer Lüge als Vorgehensweise jeder Geschichtsschreibung wird dem Sachverhalt nicht gerecht und ist verfehlt.

Voltaire hat tatsächlich keine solche allgemeine Behauptung über Geschichtsschreibung aufgestellt. Er hat selbst Geschichtsschreibung betrieben und hätte sich dann übrigens selbst der Lüge bezichtigt.

Voltaire, ein Philosoph der Aufklärung, hielt es für eine Aufgabe von Geschichtsschreibung, sich um Wahrheit zu bemühen. Seiner Meinung nach ist dabei nur eine möglichst große Wahrscheinlichkeit erreichbar, nicht eine Genauigkeit und Gewißheit wie in Mathematik und Naturwissenschaften.

Widerlegung von Verfälschungen und Irrtümern ist etwas, mit dem nach Voltaires Überzeugung aufklärerische Geschichtschreibung sich stark zu beschäftigen hat.

Voltaire verwendet bestimmte Maßstäbe als Grundlage für Zweifel:

1) Unglaubwürdigkeit auch von Zeitzeugen, die etwas sehen und hören konnten, wenn diese etwas berichten, was der Vernunft (den Regeln des gesunden Menschenverstandes) zuwiderläuft

2) Mißtrauen gegenüber allem, was übertrieben zu sein scheint (Abweichung von der normalen Ordnung der Dinge)

3) Mißtrauen gegenüber der Beschreibung des Verhaltens, der Sitten und Bräuche fremder Völker

Fabulierte Wundergeschichten stoßen auf Ablehnung. Voltaire nimmt außerdem eine in gewissem Umfang allgemeine (universale) grundsätzliche Menschennatur an. Damit gibt es seiner Meinung nach etwas, das bei Menschen zu allen Zeiten und überall, unabhängig von Volk und Kulturkreis, gleichbleibend ist. Für glaubwürdig hält Voltaire nur, was im Rahmen einer allgemeinen menschlichen Psychologie plausibel ist.

Die tatsächliche Äußerung steht in Voltaires Erzählung «Jeannot et Colin» (1764). In einem Gespräch von Figuren der Erzählung (2. Teil) wird das einem überlegten Lernen von Geschichte entgegengehalten, die Tagesgeschichte sei doch unterhaltsam und nützlich. Alle alten Geschichten seien, wie ein Schöngeist bemerkt habe, nichts als vereinbarte Fabeln und die modernen Geschichten seien ein unentwirrbares Chaos („Toutes les histoires anciennes, comme le disait un de nos beaux esprits, ne font que des fables convenues; & pour les modernes c’est un cahos qu’on ne peut débrouiller.“).

In einem Brief vom 15. Juli 1768 an Horace Walpole (in der Zeitschrift „Mercure de France” 1769 abgedruckt) vertritt Voltaire Mißtrauen gegenüber allen alten Geschichten und nennt als Autor der Bemerkung über vereinbarte Fabeln (fables convenues) Fontenelle.

Bernard le Bovier de Fontenelle, De l'origine des fables (Über den Ursprung der Fabeln; 1684 geschrieben, 1724 veröffentlicht) hat dies nicht wortgenau so geschreiben, sondern in einem bestimmten Zusammenhang die Bemerkung gemacht, es gebe keine anderen alten Geschichten als diese Fabeln („il n'y a point d'autres histoires anciennes que les fables.“), Fontenelle lehnt übernatürliche Wundergeschichten ab. Er wertet die antike griechische und römische Literatur eher ab. Insbesondere für die Frühzeit, über die es keine Dokumente und zuverlässige Berichte gibt, werden ‘Fabeln’, fiktive (ausgedachte) Erzählungen geboten. Mythen und Sagen sind entstanden und in Umlauf gebracht worden.

zu dem angeblichen Voltaire-Zitat:

http://quoteinvestigator.com/2016/07/05/fable/

zu Voltaires Geschichtsphilosophie:

Gerhard Stenger, Voltaire. In: Frankreich (Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begründet von Friedrich Ueberweg. Völlig neu bearbeitete Ausgabe. Herausgegeben von Helmut Holzhey. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts – Band 2/2). Herausgeben von Johannes Rohbeck und Helmut Holzhey. Basel : Schwabe, 2008, S. 250:

„Voltaires historischer Skeptizismus ist nicht nur ein Produkt der pyrrhonistischen Tradition des 17. Jahrhunderts, sondern hat eine kritische Grundlage, die zum ersten Mal im Vorwort zur ‹Histoire de Charles XII› in der Ausgabe von 1748 formuliert wird. Erstens sei selbst Augenzeugen nicht zu glauben, wenn diese Dinge berichten, die den gesunden Menschenverstand brüskieren. Zweitens müsse allem, was übertrieben erscheint, Misstrauen entgegengebracht werden. Drittens sei solches Misstrauen auch gegenüber der Schilderung von Sitten und Gebräuchen fremder Völker angezeigt. «Verweigern wir unser Vertrauen jedem antiken oder modernen Historiker, der uns Dinge berichtet, die der Natur und Wesensart des menschlichen Herzens zuwiderlaufen» […]. Voltaire weist alle Berichte zurück, die irgendeine Unmöglichkeit enthalten. Da das Wunderbare dem gesunden Menschenverstand widerstrebt, kann auch kein noch so vollständiger historischer Echtheitsbeweis eine Wundererzählung glaubhaft machen. Diese Weigerung, etwas zu akzeptieren, was der «Natur und Wesensart des menschlichen Herzens» widerspricht, hat weitreichende Konsequenzen für seine Geschichtsschreibung. Überzeugt von der Uniformität der menschlichen Natur und der menschlichen Wertsetzungen, vermag er sich nicht vorzustellen, wie Menschen in einer Art und Weise handeln können, die sich grundlegend von seiner eigenen Denk- und Handlungsweise unterscheidet. So sucht er z.B. für die Kreuzzüge entweder nach «rationalen» Motiven wie der Absicht zu plündern oder betrachtet sie als einen Fall kollektiven Wahnsinns. Wunder schliesst er aus der menschlichen Geschichte aus, weil er die Gesetze des menschlichen Verhaltens für so unveränderlich hält wie die Gesetze der Schwerkraft […].“

Er  meint damit, dass die Geschichte oft eine Lüge ist. Die Leute die diese ,Geschichte , niederschreiben, haben meist einen Auftraggeber, der schon vorgibt wie die Geschichte aussehen muss, zu seinen Gunsten, dafür werden sie auch bezahlt. Die Kirche war sowieso darauf bedacht, ihren Ruf nicht zu verlieren und hat alles unterdrückt, was ihr schaden könnte. Geschichte wird von Menschen geschrieben und jeder hat so seine eigenen Vorstellungen, so dass am Ende vieles Anders aussieht, als wie es wirklich war.

Er meinte wohl, daß Geschichte immer einseitig oder verfälscht erzählt und weitergegeben wird. Neben vielen anderen verfälschten Versionen hat sich dann irgendwann eine durchgesetzt, welche allgemein anerkannt wurde.

Man muß dabei berücksichtigen, daß im 18.Jahrhundert Ereignisse nur mündlich oder schriftlich von Einzelnen, also stark subjektiv geprägt, weitergegeben wurden. Objektive Belege wie Medienaufzeichnungen gab es erst ab dem Beginn des 20.Jahrhunderts. Ob Medien allerdings zu einer objektiven Geschichtsbildung führen, ist eine andere Frage. Geschichte wird auch durch Meinungen gemacht.


Voltaire unterstellt, daß im Nachhinein Lügen und Märchen und Legenden zur "Geschichte " werden. Er behauptet, daß niemand mehr weiß, was wirklich geschehen ist. Besonders nachdem viel Zeit vergangen ist oder wenn jemand Interesse hat das Geschehene umzudeuten.

Das ist nicht unberechtigt. Es gibt viele Beispiele, wo Lügen und Verdrehungen in die Geschichte eingingen.

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Bsp.

Ramses II griff die Hethiter bei Kadesh an. Er wurde vernichtend geschlagen und konnte kaum sein Leben retten. Zurück in Ägypten behauptete er allerdings, er habe gesiegt. Das ließ er auch niederschreiben. Erst in der Neuzeit wurden Beweise entdeckt, daß dies eine Lüge war.

https://de.wikipedia.org/wiki/Ramses_II.#Feldz.C3.BCge_nach_Syrien

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Der Vatikan behauptet, das Land auf dem der Vatikanstaat errichtet ist, sei ihm von Kaiser Konstantin geschenkt worden. Die Urkunde, in der das steht, ist allerdings eine Fälschung.

https://de.wikipedia.org/wiki/Konstantinische_Schenkung

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Die Urkunde, die Hamburg Stadtrechte gibt, ist eine Fälschung.

http://www.hh-geschichten.uni-hamburg.de/?p=788

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Die Bastille wurde nicht erstürmt. Sie wurde von dem Kommandanten Bernard-René Jordan de Launay übergeben. Obwohl ihm und seinen Leuten freies Geleit zugesichert war, wurde er ermordet.

https://de.wikipedia.org/wiki/Bastille#Die_Erst.C3.BCrmung_der_Bastille

Trotzdem feiert man den kattors schülje! :-D

Der Sieger schreibt die Geschichte und legt diese natürlich positiv für sich aus (beispielsweise wird nur wenig über die Kriegsverbrechen der Alliierten während des zweiten WKs berichtet) und mit dem Verlierer wird eine "Übereinkunft" getroffen, dass dies nun die Wahrheit sein soll.