Warum werden Lieder immer schneller gespielt?

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Hi

Das te deum von Charpentier ist eines meiner Leib- und Magenstücke. LOL. Ich kann die Altblockflöte I und den Bass größtenteils auswendig 😄.

Ich hab grad mal einige Aufnahmen gezählt.

Parlement de Musique 1:24 (imho bestes Tempo, sehr gute Aufnahme)

Seraphic fire and the Sebastians unter Patrick Dupre Quigley 1:29 (imho beste Aufnahme aller Zeiten, aber Prelude etwas arg gemessen)

Herve Niquet mit Croatian Baroque 1:11

Vincent Dumestre 1:06

Es geht also noch viel schneller und heute ist 1:21 nicht mehr schnell sondern mittig.

Guck mal Bach kann man auch etwas beschleunigen lol:

https://www.youtube.com/watch?v=fC--tl2JV68

Oder der ähm umstrittene Sir Roger Norrington beschleunigt Schubert a bissl:

https://www.youtube.com/watch?v=rzcFQOyNHZU

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Die Frage war warum.

Es gibt die Erzählung, dass die klassische Musik schneller geworden sei. Also dass sie seit dem Ende oder gar der Mitte des 20. Jahrhunderts immer schneller geworden sei. Wegen xyz ich brauch es nicht wiederzugeben, denn es stimmt nicht, das Gegenteil ist wahr: Fast alle Quellen die Aufschluss über Tempi geben aus dem 18. 19. und teils frühen 20. Jahrhundert zeichnen das Bild dass die klassische Musik früher deutlich schneller gespielt wurde und es im 20. Jahrhundert eine Phase gab in der man das alles enorm verlangsamt hat. Das wissen viele Dirigenten und sie sind von der historischen Aufführungspraxis beeinflusst bemüht wieder "Originaltempi" zu spielen.

Sobald es Metronomangaben gibt- Beethoven ist einer der ersten der so was getan hat- sind die Angaben oft rasend schnell, teilweise technisch auf modernen Flügeln unmöglich. Die früher als irre empfundenen Metronomangaben insbesondere von Beethoven und Czerny haben neben Verwirrung und Verwunderung und Ablehnung sogar die Verschwörungstheorie befeuert, die Alten hätten das Metronom halb so schnell benutzt, also zwei Schläge seien damals ein Schlag gewesen. Der heute bekannteste Vertreter dieser (falschen und nicht durchzuhaltenden) "Doppelschlagtheorie" ist Wim Winters.

In Wahrheit waren die nicht wahnsinnig, sie hatten schnellere Klaviermechaniken (Wiener Mechanik) und haben gern- auch Orchester - sehr schnell spielen lassen.

Auch die Barockmusik hat mit Sicherheit mit den üblicherweise äußerst schlanken Ensembles nicht gravitätische Tempi in schnellen Sätzen benutzt.

Beim Te deum z.B. findet man im Autograph Hinweise auf eine verborgene/implizite Doppelchörigkeit die man im Prinzip leicht so interpretieren kann dass Charpentier mit nicht mehr als 8 Sängern für das Werk gerechnet hat. Je kleiner dein Ensemble desto schneller...zumindest tendenziell. [[fun fact, das Aufführungsmaterial des Weihnachtsoratoriums unter Bachs eigener Leitung z.B. ist erhalten. Es sind 4 (!!!) Singstimmen ausgeschrieben worden]]

Mit einem Chor von 4 oder 8 ist es viel schwerer Gravität aufzubauen, es ist nichts mit chorischem Atmen. Äquivalent dazu die "Kurzatmigkeit" der alten Geigenbögen- Barockbögen sind viel kürzer und konvex statt konkav was den Bereich in dem der Bogenstrich volle Kraft hat noch weiter verkürzt- die laden dazu ein schnell zu spielen. Sie greifen auch noch schneller und erleichtern schnelle Sechzehntelketten. Die sind für betonte Artikulation gebaut nicht für schmelzende Linien. Die kleinen alten Pauken haben einen explosiven trommelartigen Anschlag, kaum Nachhall und ungepolsterte scharfkantige Holzschlägel.... das sind eher Banjos als Gitarren um einen Vergleich zu bringen.

Beim Te deum mag dazu kommen, dass.... ich kann das nicht ganz durchschauen aber... also die originale Bezeichnung des ersten Satzes ist "Prelude". Manchmal findet man aber die Bezeichnung Marche en rondeau. Die Struktur des Preludes ist die eines Ritornellmarsches den es in Frankreich damals gab. Ich vermute das hat einige Leute dazu befeuert echtes Marschtempo zu wählen. Ich halte das eher für einen Irrtum, aber das Stück gefällt mir doch recht schnell und auch mit der französischen Inegalite (einem leichten "Swing") deutlich besser. Die Pauken müssen tanzen 🤗

In diesem Video findet man einige Beispiele für schnelle und vor allem extrem flexible Tempi selbst noch um 1900

https://www.youtube.com/watch?v=qFPW9ENtNKA


Grobbeldopp  20.12.2023, 04:17

PPS

Was man nicht so oft findet- unter den Aufnahmen die ich jetzt genannt habe gar nicht- sind übrigens mehrfache Fagotte. Das haben die Franzosen immer gern gemacht und bringt ordentlich Lärm mit.

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„Weil sich grundsätzlich das Konsumverhalten geändert hat, vor allem durch Social Media, Spotify und das Skipping-Verhalten“, erklärt Udo Dahmen, künstlerischer Direktor und Geschäftsführer der Popakademie in Mannheim. Auch Simon Obert, musikwissenschaftlicher Mitarbeiter der Paul Sacher Stiftung, einem privaten Forschungsarchiv zur Musik des 20. und 21. Jahrhunderts, sieht einen Zusammenhang dieser Veränderung in den Streaming-Diensten: „Je häufiger eine Aktivität bei einem Song von Spotify festgestellt wird, desto besser funktioniert er.“ Das heißt: Ist ein Song kürzer, kann man ihn auch häufiger hören. https://www.edit-magazin.de/musikentwicklung-der-1980er-und-2020er.html