Wahn oder Wirklichkeit? (Sandmann)?

2 Antworten

Hallo Luca374z328!

Den Tempuswechsel kann ich nicht finden, auch nicht als Merkmal zur Verdeutlichung des Unterschiedes zwischen Wahn und Wirklichkeit.

Meine Ideen sind vielmehr:

  1. Vor allem die Perspektivwechsel der Erzählung bewirken, dass die verschiedenen Ebenen der Wahrnehmung des Geschehens deutlich werden: Aus der Sicht des sensiblen Künstlers, der irrationale Mächte in sein Leben eingreifen sieht einerseits, und andererseits in der Außensicht z.B. durch Clara, Lothar oder zum Schluß der Mutter, die die fixen Ideen als Ausdruck einer Krankheit deuten.
  2. Die Motive, die mit dem (verzerrten) Sehen zu tun haben (Coppolas Perspektiv, Coppelius' Ruf "Augen her, Augen her!", Lorgnetten und Brillen, Coppolas Anpreisung "Oke – sköne Oke" etc.) werden dann verwendet, wenn sich in der Erzählung eine verzerrte Wahrnehmung bei Nathanael anbahnt.

LG

gufrastella


Luca374z328 
Beitragsersteller
 02.11.2021, 17:23

„Näher – immer näher dröhnten die Tritte – es hustete und scharrte und brummte seltsam draußen. Das Herz bebte mir vor Angst und Erwartung. – Dicht, dicht vor der Türe ein scharfer Tritt – ein heftiger Schlag auf die Klinke, die Türe springt rasselnd auf! – Mit Gewalt mich ermahnend gucke ich behutsam hervor. Der Sandmann (…)!“  -E.T.A. Hoffmann Sandmann, Seite 14

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gufrastella  02.11.2021, 17:27
@Luca374z328

Ja, da hast du recht, das ist mir nicht aufgefallen! Wenn dies bei allen Szenen so sein sollte, in denen Nathanael sich etwas einbildet und wahnhaft verzerrt, ist es ein Stilmittel, das dies markieren soll.

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Leser meint:

Es gibt wohl nichts auf dieser Welt was Deinen Beobachtungen entgeht, und zu allen Beobachtungen scheinst du auch noch eigene Gedanken zu entwickeln.

Dein Frührentnerdasein hat offensichtlich zu einer Explosion Deiner geistigen Produktivität geführt. Ich bin dagegen bin nicht mal in der Lage,  Deinen Output komlett zu konsumieren.

Falls Du ein typischer Repräsentant eines Ruheständlers sein solltest, dann stünde die deutsche Gesellschaft mit ihrer anstehenden Rentnerschwemme vor einer glänzenden Zukunft.

Multi meint zu den einleitenden Sätzen:

"... nichts auf dieser Welt was Deinen Beobachtungen entgeht"

So isses: Multi sieht schlechter als früher

aber dafür alles!

Fast alles :-)

Anderer Leser:

"es gibt keine wirklichkeit

außerhalb der sprache

sagte der weise mann.

doch: wie lange müsst ihr

noch filosofieren

bis ihr merkt,

dass man worte nicht essen kann?"

Und weiter schreibt er:

"geistlose kommentare bitte ich hinunterzuschlucken"

Multi meint:

Wo hast Du denn diese Frage noch gestellt? Weil Du Furcht hast, vor geistlosen Kommentaren?

Wahrscheinlich an "Phielgesoffe" :-)

Aber im Ernst.

Genau heute habe ich auch noch mal darüber nachgedacht.

So im Sinne von Antirealismus resp. Konstruktivismus etc.

Kann es überhaupt eine Realität ausserhalb unserer geben?

Ausserhalb unserer wahrnehmbaren und ausserhalb unseres Begriffssystemes?

Ich tendiesere eher dazu zu behaupten (mehr noch nicht), dass

das ein Widerspruch wäre, ein systematischer.

Denn "Wirklichkeit", "Realität" sind Begriffe, die sich auf UNSER System beschränken müssen. Sie sind ja von uns "geboren" worden.

Sie sind für etwas "ausserhalb" liegendes, für andere "Ebenen", "Formen" (natürlich auch wieder nur Begriffe) nicht ausreichend kennzeichnend.

Andere Formen, Ebenen, Systeme verlangen andere Begriffs - und Vorstellungsmuster, als die für UNSER System maßgeblichen, adäquaten.

Darüber hinaus denke ich (was ist denken? Systematisch anlysieren und logische Schlüsse ziehen... Kausalitätsprinzip achtend etc.), dass "Die Realität" ein Produkt der Evolution ist, der wir natürlich genauso unterliegen, und somit EINS ist. Also WIR sind die Realität, und zwar die ganze!

Wir halten uns immer nur in Ahnungen auf.

Wahrheiten? Fehlanzeige!

Aber doch nicht gleich in die Luft gehen...greife lieber zum PC :-)

Multi 2004 ff

P.S.

Von Wittgenstein fange ich in diesem Zusammenhang erst gar nicht an; Kommt erst in den nächsten Semestern dran -

aber vielleicht ist das hier "weiterführend": :

Sprachwissenschaft - Sprache färbt und tönt das Denken

Der Linguist Jürgen Trabant streift durch die Geschichte

auf der Suche nach dem Sinn der Worte

Der große französische Klassiker Jean Racine bekannte 1673, es gebe „kaum einen bekannteren Namen als den des Mithridates“, und auch der junge Mozart wagte sich an eine Oper, die Mitridate hieß. Der unaussprechliche Name im Titel dieses Buches war also zeitweise gar nicht so unaussprechlich, und seit der ersten Sprachenzyklopädie überhaupt, 1555 von Conrad Gesner, hat man alle derartigen Bücher einfach als einen „Mithridates“ bezeichnet: Da muss einmal etwas gewesen sein.

Es gab einen Herrscher dieses Namens am Schwarzen Meer, der sich zwischen 132 und 63 vor Christus als Letzter den imperialen Machtbestrebungen der Römer widersetzte und heftige Gegenwehr leistete. Legendär wurde er durch die 22 verschiedenen Sprachen, die er gesprochen haben soll; er sprach mit den ihm unterlegenen Völkern in deren Worten und zwang ihnen nicht eine hegemoniale Einheitssprache auf.

„Mithridates“ und „Paradies“ sind die beiden zentralen Begriffe in der Geschichte des Sprachdenkens, die der Berliner Romanist Jürgen Trabant geschrieben hat, und sie stehen für gegensätzliche Ansätze, mit Sprache umzugehen, und die erbitterten Auseinandersetzungen darum dauern bis heute an.

Wäre es besser, es gäbe bloß eine Sprache, um alle Verständnisschwierigkeiten zu vermeiden? Oder liegt gerade in der Vielzahl der menschlichen Sprachen eine außerordentliche, sinnliche Qualität der Erkenntnis?

Das Paradies jedenfalls war unter anderem dadurch ausgezeichnet, dass es dort keine Sprachverwirrung gab. Diese begann erst mit dem Sündenfall, und in dessen Gefolge wurde der Turmbau zu Babel zum Inbegriff des Schreckens: Die Sprache splitterte sich in lauter verschiedene, unverständliche Einzelsprachen auf.

Humboldt, der Hausheilige

Die Vorstellungen, die mit dem sprachlichen Paradies verbunden wurden, änderten sich im Lauf der Geschichte beträchtlich.

Es durchzieht sie aber ein roter Faden, der als grundsätzliche Sprachkritik sichtbar wird – vom Verdacht Platons, dass die Sprache bei der wahren Erkenntnis stört, bis zu den harten wissenschaftlichen Empirikern, denen alles Vage und Uneindeutige grundsätzlich suspekt und die Sprache deshalb nur Mittel zum Zweck ist.

Trabants Ansatz ist also überaus aktuell. So, wie er den Wissenschaftsbegriff diskutiert, greift das mitten hinein in die heutigen Krisendebatten und Bildungsnotstände.

Die Perspektive verlagerte sich ständig, von Aristoteles’ Diktum, dass die Wörter bloß lautliche Erscheinungsformen seien, aber nichts selbst bedeuteten, bis zur römischen Glanzzeit, in der die Rhetorik wichtiger war als die Philosophie. Richtig spannend wird es für den Sprachwissenschaftler aber erst bei Dante.

Die Stadtkultur der italienischen Renaissance lebt mit dem Gegensatz zwischen der Gelehrtensprache Latein und der Volkssprache, und diese wird in De vulgari eloquentia von Dante zum ersten Mal offensiv gefeiert. Das Geschichtliche ist nichts Bedrohliches mehr, es entwickelt vielmehr einen Freiraum, der auch sprachlich ausgefüllt werden kann. Nach Dante verschwindet die Volkssprache allerdings wieder in der Versenkung, die Humanisten verwirklichten sich vornehmlich in Latein.

Warum das so war, diskutiert Trabant nicht in besonderem Maß, hier wären einige soziologische Einlassungen durchaus interessant gewesen. Doch diesem Autor geht es eher um den Sprachwitz selbst und um die Rolle der Sprache für das Denken. Sind die Wörter unumstößliche Faktoren des Denkens oder bloß austauschbare Signifikanten, die der Wissenschaft hinderlich sind – dieser Streit wird zu einem dynamischen Prozess, und trotz einzelner Etappensiege verschiedener Seiten – Locke, Descartes, Condillac, Vico – endet die Sache immer unentschieden.

Eine Verbindung der Gegensätze leistet vorübergehend Wilhelm von Humboldt, der wohl als Jürgen Trabants Hausheiliger gelten kann. Humboldt spricht den Sprachen einerseits die Fähigkeit zu, die Welt zu erfassen und die Dinge zu benennen, andererseits hebt er ihre jeweilige „Eigenthümlichkeit“ hervor.

Poesie als Produktivkraft

Doch die Eigendynamik von Philosophie und Rhetorik, von Wissenschaft und Dichtung führte zu immer neuen Verwicklungen. Heute ist das global English dabei, sprachliche Verschiedenheit in eine pragmatische Einheitlichkeit zu verwandeln. Trabants Buch ergreift Partei und gerät dadurch mitten hinein in den alten Zwist, den es beschreibt – die Empiriker und Pragmatiker, die der Sprache das Mehrdeutige ausmerzen wollen und die Welt ins Plus-Minus-Schema fassen, berufen sich dabei merkwürdigerweise jedes Mal wieder darauf, dass sie das Neue verkörpern.

Trabant bleibt gelassen, aber er verzeichnet Fehlentwicklungen der Sprachwissenschaft mit einiger Verve: wie aus einer allgemeinbildenden Disziplin ein positivistisches Brachland wurde, das über Strukturalismus, Transformationsgrammatiken und Computersprachen die Sprache selbst aus den Augen verliert – dieser Vorgang wiederholt Entwicklungen, die sich jedes Mal gerächt haben. Trabant hält es eher mit Ciceros „lumen“, dem Licht, das durch die Wörter auf die Welt fällt, dem „Eigenen“ der Sprache, das selbst in der Hochzeit der Aufklärung als „je ne sais quoi“ existierte. Da kann die Poesie zur Produktivkraft werden. Vielleicht ist Humboldt aktueller, als es scheint. Vielleicht, so ist aus diesem sympathischen Buch zu schließen, wäre es gar nicht so vermessen, für die heutigen Bildungsdiskussionen ihn wieder zurate zu ziehen.

Jürgen Trabant: Mithridates im Paradies Kleine Geschichte des Sprachdenkens;

Verlag C. H. Beck, München 2003; 356 S., 26,90 € (Helmut Böttiger, DIE ZEIT 07.04.2004)

"Die Sprache hat einen Hang zur Großsprecherei. Kaum ein Wort sagt zu wenig, fast alle Wörter sagen zu viel. Leider leben wir die meiste Zeit in unausgedrückten Bereichen. Wir müssen schon froh sein, wenn wir einen Sachverhalt wenigstens falsch ausdrüc