Vom Blatt singen lernen?
Ich möchte die Fähigkeit erlernen, eine Partitur zu lesen und in der Lage zu sein mir vorzustellen wie das vorliegende Stück klingt. Wenn ich langsam die C dur Tonleiter im Kopf durchgehe, komme ich meistens ungefähr darauf wie ein Ton bzw. Eine Tonfolge klingen müsste (nur ungefähr). Kann mir jemand Tipps geben, wie man auf diesem Gebiet besser werden kann, also quasi ein „inneres Ohr“ entwickelt?
2 Antworten
Die Voraussetzungen sind: Du musst extrem gut Noten lesen können und jede Note möglichst rasch ihrer Stufe in der Tonleiter/Tonart zuordnen können. Dann benötigst Du eine hervorragende Kenntnis aller Intervalle innerhalb der Oktave (rein, groß, klein, ebenfalls auch die verminderten/übermäßigen Sonderfälle in Sekund, Quarte, Quinte, Sexte und Septime sowie optimalerweise auch ihre Rolle im Tonsatz) und musst in der Lage sein, jedes Intervall sofort genau zu erkennen. Das lernt man innerhalb von mehreren Tagen und kann es mit gezieltem Training innerhalb von einigen Wochen verinnerlichen.
Als nächstes musst Du Dir eine klangliche Vorstellung von allen diesen Intervallen aneignen. So lernst Du auch Blattsingen: Jedes Intervall, auf- und abwärts, musst Du so verinnerlichen, dass Du es auf Anhieb von möglichst jedem Ton aus singen und Dir vorstellen kannst (am wichtigsten sind aber alle reinen Quinten, Quarten gr./kl. Terzen und gr./kl. Sekunden). Das lernt man am besten durch das Merken von Liedanfängen: Suche Dir für jedes Intervall (aufwärts wie abwärts) einen Dir gut bekannten Liedanfang, aus dem Du das fragliche Intervall heraus produzieren kannst: im Nachsingen und in der Vorstellung. Dies lernt man auch innerhalb von einigen weiteren Wochen bis Monaten, muss aber lange "dran" bleiben, um auch die schweren Intervalle zu trainieren und längerfristig "frisch" zu bleiben. Am Ende des Trainings solltest Du in der Lage sein, Gregorianik vom Blatt zu singen und auch atonale Zwölftonreihen.
Google-Suchbegriffe: "Intervalle Liedanfänge" und "Intervalle Merkhilfen"
https://www.musicca.com/de/intervall-lieder
https://de.wikipedia.org/wiki/Intervall_(Musik)#Merkhilfen
Zuletzt kommt die Klangvorstellung im Harmonischen, die weniger das vertikale Vorstellen von Partiturnoten ist, als vielmehr das funktionsharmonische Zuordnen mithilfe des inneren Ohres. Dabei musst Du die Harmonik im Lesen erkennen und sofort die Akkordfunktion wissen. Das alles musst Du dann mit einem Klangcharakter und einer Klangvorstellung in Verbindung bringen können. Diese Fähigkeit ist, wenn Du sie gut beherrschst, schon fortgeschrittenes Hochschulniveau. Anfangen kannst Du dieses Training, wenn Du in der Melodievorstellung etwa auf mittlerem Niveau stehst. Beginnen solltest Du damit, Dir Kinder- und Volkslieder harmonisch vorzustellen und danach (!) am Instrument nachzuspielen. Angefangen mit Tonika und Dominante, folgen Subdominante, verschiedene Kadenzbildungen und die übrigen Klänge der Tonleiterstufen, weiters folgen naheliegende Septakkorde und die nächstverwandten alterierten Akkorde, Zwischendominanten etc. Recht bald kannst Du das "innere" Partiturlesen mit kurzen, sehr einfachen, frühklassischen und Wiener klassischen Klavierstücken beginnen, dann mit einfachen Generalbassstücken und leichten Rezitativen z.B. aus Bachkantaten, Oratorien oder Opern. Komplexe Klaviersonaten und Orchesterpartituren sind dabei fortgeschrittene Stufen dieses dritten Teils. Sie kommen am Schluss. Aber du kannst sie bald zu üben beginnen, wenn Du die Noten von Dir gut bekannten Stücken nimmst und ohne Aufnahme nur mit dem inneren Ohr und Deiner Vorstellung die Noten liest.
Gern geschehen. Ich meine mit "verinnerlichen": direkt sehen und das Intervall ohne abzählen zu müssen sofort erkennen und sich den Klang des Intervalls zugleich vorstellen können.
Ich würde versuchen, Intervalle zwischen den Tönen zu erkennen und diese zu singen.
Absolute Tonhöhen genau zu reproduzieren überlasse ich den Musikinstrumenten.
Beim Partiturlesen sind Kenntnisse der Harmonielehre hilfreich, um aus der Abfolge der Harmonien den Gesamtklang abzuleiten.
Vielen vielen Dank für die sehr ausführliche Antwort! Meinst du mit Intervalle verinnerlichen, dass ich zwei Noten sehe und direkt weiß in welchem Abstand sie stehen (quinte, kleine sexte etc), oder bloß das ich abzähle und dann weis welches Intervall vorliegt?