Steine auf einen Grabstein legen?
Im Judentum besteht die Tradition, bei einem Besuch am Grab eines geliebten, oder verehrten Menschen einen Stein auf dem Grabstein abzulegen. Als Zeichen der Verehrung und das man sich an den Toten erinnert. Auch im christlichen Umfeld beobachte ich das ab und zu. Wird es von den Juden als kulturelle Aneignung betrachtet, oder akzeptieren sie die Übernahme dieses Brauches?
3 Antworten
Nun, laut der Historikerin Tina Walzer, die seit langen Jahren über den jüdischen Friedhof Währing in Wien und die Wiener jüdische Gemeinde forscht, ist die Sache mit den Steinen ohnehin eine kulturelle Aneignung aus der anderen Richtung.
Ich fasse ihre Aussage einmal so zusammen:
- in der jüdischen Tradition gibt es ursprüngliche keine große Beerdigung. Die Angehörigen bleiben trauernd zu Hause, die Beerdigung des Leichnams wird inzwischen von der zuständige Bruderschaft (Chewra Kadischa) übernommen.
- Die Toten sind nämlich unrein. Deswegen gibt es auf den alten Friedhöfen am Ausgang ein Waschbecken, so dass man sich reinigen kann, wenn man einen Friedhof besuchen musste. Aber freiwillig geht man da eigentlich nicht hin
- Nun kommt aber die Aufklärung zum Beginn des 19. Jahrhunderts, bei den europäischen Juden die Haskala: Man tritt mehr in den Austausch mit dem christlichen Bürgertum und sieht sich im Zuge des aufkommenden Nationalismus auch erstmals eher als Volk und nicht als Religionsgemeinschaft.
- Im Zuge dessen ändert sich auch die Friedhofskultur, bei den liberalen Juden kommen neue und repräsentative Grabmonumente in Mode, und man kreiert sich seine eigene Tradition in Anlehnung an die Christen und ihre regelmäßigen Friedhofsbesuche.
- Man liest also die heiligen Schriften und sucht darin nach passenden Friedhofsbräuchen, so viel passendes steht da aber nicht drin. Aber in Anlehnung an die Geschichte mit der Wüste und dem Exodus kommt man auf die Idee mit den Steinen: Dass doch bestimmt in alter Zeit Steine auf die Gräber gehäuft wurden, damit keine wilden Tiere die Totenruhe stören konnten, und jeder fromme Mensch da die Steine wieder darauflegt oder neue dazu legt.
Quelle: https://www.geschichte.fm/podcast/zs136-bonus/ (ab Minute 40 etwa. Aber es lohnt sich auf jeden Fall, das ganze Ding anzuhören)
...Und das ist die Geschichte, die heute oft als jahrtausendealter Brauch gilt, die aber vermutlich nur 200 Jahre alt ist. Tja.
Anmerkung von mir: Schaut man sich die Bestattungskultur der Juden im 1. Jahrtausend v. Chr. an, dann findet man da Bestattungen in Felsengräbern und Höhlen. Selbst vor Jesu Grab lag bekanntlich nur 1 Stein, und das war mitnichten ein Kieselstein, sondern eben die "Eingangstür" zur Felsenkammer.
Im losen Sand verscharrt und mit Steinen überhäuft wurde da aber eher niemand, im jüdischen Kernland gibt es nämlich ziemlich viel Berg und Fels und eher wenige Sandwüsten.
Im römischen Reich bis in die Spätantike sind dann auch anderswo im Reich Katakomben nachweisbar - eine Sitte, die teilweise von den frühen Christen übernommen wurde.
Fazit: Der jüdische Brauch, beim Friedhofsbesuch zum Andenken einen kleinen Stein aufs Grab zu legen ist selbst relativ jung und entstand aus einem fruchtbaren Austausch mit der christlichen Mehrheitsgesellschaft.
Wenn sich Christen das nun wiederum abschauen und übernehmen wollen, dann ist das gewissermaßen nur die nächste Überformung in einem Prozess kulturellen Austauschs, eine unzulässige Aneignung kann ich da nicht erkennen.
Aber nachdem ich keine Jüdin bin, würde ich mir da kein letztendliches Urteil erlauben wollen - vielleicht sehen das jüdische Gemeinden aus irgendwelchen Gründen anders.
Schönen Dank. Also quasi eine kulturelle Rückaneignung! 😉
In der jüdischen Tradition kommt es tatsächlich vor, dass Menschen bei einem Besuch auf dem Friedhof Steine auf dem Grabstein ablegen. Dies geschieht als Zeichen der Ehrerbietung und des Gedenkens an den Verstorbenen. Ob Juden die Übernahme dieses Brauches durch Christen als kulturelle Aneignung betrachten würden, ist schwer zu sagen, da die Meinungen dazu sicherlich unterschiedlich sind. Einige Juden könnten die Übernahme dieses Brauches durchaus akzeptieren, während andere sie vielleicht als kulturelle Aneignung betrachten würden. Letztendlich kommt es darauf an, wie die Übernahme des Brauches von den betroffenen Juden aufgefasst wird
Das mit dem Stein ist in Wüstengegenden nicht unnormal,
damit bleibt das Grab immer erkennbar, auch wenn Sand darüber geweht wird.......
Das hat weniger mit dem jüdischen Glauben zu tun,
wobei die jüdische Religion die erste der abrahamitischen Religionen darstellt. Bei "kultureller Aneignung" müssten Christen und Moslems das komplette Alte Testament abliefern.