Nominalstil im Deutschen?

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Nominalstil möchte ich gern in zwei Kategorien unterteilen, und zwar in

  • Funktionsverb-Gefüge (FVG): Ein FVG besteht aus einem informationsschwachen Verb und einem Nomen, das die eigentliche Information trägt, wie z.B. stellen + Frage. Diese muss man natürlich noch grammatisch verbinden. Minimal wäre das: eine Frage stellen statt fragen. Sinnvoller ist es, ein FVG in seinem kompletten grammatischen Umfeld zu lernen, also: jdm. eine Frage stellen = jdn. etwas fragen. So lassen sich von vornherein Fehler vermeiden, die sonst leicht vorkommen können: Wie man sieht, steht im vorliegenden Beispiel die befragte Person bei Benutzung des FVGs im Dativ, bei Benutzung des einfachen Verbs jedoch im Akkusativ.
  • FVGs benutzen wir auch gern in der gesprochenen Sprache. Allerdings hängt es natürlich von der Sprachkompetenz des Sprechers (familiäres bzw. generell soziales Umfeld, Schulbildung etc.) ab, ob er häufig ganz automatisch FVGs benutzt und diese sowohl grammatisch richtig als auch inhaltlich passend verwendet. Manche FVGs gehören durchaus zur Umgangssprache und werden auch von Menschen aus bildungsfernen Schichten benutzt, wie z.B. etwas in Kauf nehmen, in Gang kommen o.ä., andere wiederum, die mehr auf der abstrakten Ebene liegen, werden von diesen so gut wie gar nicht (oder wenn, dann oft in falschen Verb-Nomen-Kombinationen, grammatisch falsch oder in nicht passendem Kontext) verwendet, wie z.B. auf etwas Anspruch erheben, an jdm./an etwas Kritik üben o.ä.
  • Nominalisierungen: Das sind sprachliche Sparformen. Sie stehen anstelle eines Nebensatzes oder einer Infinitiv-Konstruktion. Einen Nebensatz zu nominalisieren ist relativ einfach, wenn man ein paar Grundregeln der Grammatik beherrscht: Konjunktion => Präposition, Verb => Nomen, Objekt (Akk) oder Subjekt (Nom.) => Genitiv, Adverb => Adjektiv zum Genitiv. Das ist nur grob umrissen, aber so funktioniert es meistens. Der umgekehrte Weg, also von der Sparform zur Verbalisierung, ist, wie du selbst schon bemerkt hast, wirklich schwieriger, da man bei den Verben wissen muss, ob Aktiv oder Passiv und auch, welche Zeitform nötig ist. Beispiel: Nach der zweistündigen Operation des 89jährigen Patienten durch Prof.Heidelbär gingen .... =>a. Nachdem der 89jährige Patient 2 Stunden lang von Prof. Heidelbär operiert worden war, gingen ... b. Nachdem Prof. Heidelbär den 89jährigen Patienten 2 Stunden lang operiert hatte, gingen... Was ist besser? Das hängt ganz davon ab, wie der Satz weitergeht und ob der Fokus mehr auf dem Patienten oder auf dem Prof liegt. Im realen Leben muss man zum Glück keine Sätze transformieren, aber ein Deutschlerner in bestimmten Grammatikprüfungen auf dem Fortgeschrittenen-Niveau leider schon.
  • Lange Nominalisierungen benutzen wir in der Umgangssprache kaum, weder schriftlich noch mündlich. Sie sind der Schriftsprache vorbehalten und vor allem in wissenschaftlichen Texten zu finden. Auch in vorbereiteten Reden, Referaten u.ä. sind sie (leider) immer noch recht oft zu hören. Genau wie lange Partizipialkonstruktionen sind lange Nominalisierungen sehr schwerfällig. Der Leser/Zuhörer muss starke Konzentration aufwenden, um dem Gedankengang zu folgen. Manchmal sind solche Konstruktionen aber nicht zu vermeiden, z.B. wenn die Aussage dadurch entstellt würde, dass man mehrere Informationen, die unbedingt zusammen gehören, in 2 oder mehr Sätze verpacken würde. Kurze Nominalisierungen benutzen wir auch in der Umgangssprache gern, sowohl schriftlich als auch mündlich. Viel kürzer, viel bequemer! Beispiele.: Zum Zähneputzen nehme ich Aronal.= Um mir die Zähne zu putzen /Wenn ich mir die Zähne putzen will, nehme ich Aronal. Bei Julias Geburt war der Vater dabei. = Als Julia geboren wurde, war der Vater dabei.

Ich habe keine Lust, meinen Text jetzt noch auf Fehler, evt. ausgelassene Wörter etc. durchzusehen. Demnächst ein paar Bemerkungen zu deinen letzten Fragen.


Schwamm777 
Beitragsersteller
 12.04.2019, 20:09

Einen riesengroßen Dank für Deine Antwort! Vielen Dank, dass Du Deine Zeit investiert hast! Du hast mir SEHR geholfen! Ich bin fester Überzeugung und würde nie unter Beweis stellen, dass Deine Antworten als Teil eines Lehrbuches für die Leute sein könnten, die sich tief mit der Sprache beschäftigen, das sage ich ohne zu scherzen. (ich denke, dass ich keinen großen Fehler mache, wenn ich mich an Dich per "du" wende - habe herausgekriegt, dass es auf diesen Seiten so verbreitet ist). Ich habe auch bemerkt, dass FVG von der Sprachkompetenz abhängt (habe lange Zeit in einem sächsischen Dorf gewohnt und FVG-Ausdrücke dort nie gehört, habe aber die sächsische Mundart erlernt, die mir sehr gefällt).

Ich möchte noch zum Ausdruck bringen, dass es meiner Meinung nach schade ist, dass ich nur von Dir Antworten bekomme und dass ich DIR bei eventuellen Fragen keine Hilfe leisten kann. Wenn Du aber Russisch lernen wirst, würde ich auch gern zur Verfügung stehen! LG

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spanferkel14  18.04.2019, 20:40
@Schwamm777

Erst einmal ganz lieben Dank für dein Kompliment und das Sternchen. Morgen oder Ostern habe ich sicher Zeit, noch ein wenig auf FVG einzugehen. Heute nur kleine Korrekturen im obigen Text:

  • "Ich bin der festen Überzeugung, dass deine Antworten Teil eines Lehrbuchs für die Leute sein könnten, die sich eingehend / intensiv mit der Sprache beschäftigen." (1. FVG muss man genauso benutzen, wie man sie im Wörterbuch vorfindet; man kann sie nicht einfach abwandeln. Also: Wenn im WB steht "der Überzeugung sein", dann muss man den Artikel auch benutzen. Bitte keine Änderungen! Das sind feste Verbindungen! - 2. "als" vor "Teil" muss weg. - 3.) "tief" passt hier nicht, m.E. am besten ist "sich eingehend mit etwas befassen / beschäftigen")
  • Ich weiß nicht, was du hier mit "unter Beweis stellen" sagen willst. Das passt leider gar nicht und macht es deshalb etwas schwer, den Satz zu verstehen. Ich habe mir deshalb diesen Satzteil einfach weggedacht, und sofort war der Sinn deines Satzes klar. Hier ein passendes Beispiel für dieses FVG: "In der mündlichen Prüfung des Zertifikat C1 stellte Schwamm777 ihre wirklich guten Deutschkenntnisse unter Beweis." oder hier mit Nebensatz: " Der junge Pianist stellte bei dem gestrigen Konzert wieder einmal unter Beweis, dass es sich bei ihm um ein Ausnahmetalent handelt." - Vielleicht meintest du " ... und würde nie in Zweifel ziehen, dass ..." oder "... und würde nie in Frage stellen, dass ..."
  • "Ich möchte dir noch sagen, dass es meiner Meinung nach ...." oder ganz einfach "Meiner Meinung nach ist übrigens schade, dass ..." oder "Ich finde es übrigens schade, dass ..." ("zum Ausdruck bringen" ist hier viel zu schwülstig/gestelzt. Bei pathetischen Mitgefühlsbekundungen in Beileidsbriefen an die Hinterbliebenen von Verstorbenen schreiben manche Leute noch in diesem gestelzten Stil: " Ich möchte Ihnen und ... mein tief empfundenes Mitgefühl zum Ausdruck bringen." - Wo ist dieses FVG passend? Z.B. bei einer Gedichtinterpretation o.ä.: "Was will der Autor zum Ausdruck bringen, wenn er in Zeile 3-5 sagt, dass ...?" oder bei einer Bildbeschreibung "Der Maler möchte vielleicht mit diesen starken Rottönen zum Ausdruck bringen, wie ..."
  • "... und dass ich dir bei eventuellen Fragen nicht helfen kann." (Auch hier ist Hilfe leisten als Ausdruck einfach zu großartig, zu bombastisch für eine alltägliche Sache. Man benutzt den FVG-Ausdruck für Hilfe in einer echten Notsituation, es handelt sich oft auch um einen organisierten Dienst für Menschen (in Not), die Hilfe brauchen, deshalb auch "jemandem Erste Hilfe leisten")

Danke auch für dein Angebot. Aber ganz ehrlich: Ich möchte auf meine alten Tage nicht mehr Russisch lernen. Ich habe genug damit zu tun, meine Sprachkenntnisse in anderen Sprachen einigermaßen frisch zu halten.

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Schwamm777 
Beitragsersteller
 23.04.2019, 21:58
@spanferkel14

Vielen Dank für das Korrekturlesen! Ich war ein paar Tage in Dresden und Chemnitz, aus diesem Grund bedanke mich bei Dir nicht gleich!

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Darauf bekommst du von mir auch noch ne Antwort, aber nicht mehr heute Nacht. Irgendwann in den nächsten Tagen. Schließlich ist das ja nicht (über)lebenswichtig. Nur so viel schon jetzt: "etwas/jdn. betrachten" (= (sich) etwas/jdn. länger und intensiv ansehen) ist absolut nicht dasselbe wie "etwas in Betracht ziehen" (= etwas in Erwägung ziehen / etwas erwägen)