Leistungen und Grenzen der Erkenntnistheorie von Descartes?

2 Antworten

Eine Angabe von Leistungen und Grenzen einer Erkenntnistheorie ist eine schwierige Angelegenheit, weil bei der Beurteilung eigene erkenntnistheoretische Auffassungen nicht völlig wegfallen können. Eine Einschätzung, die von überhaupt keinem Standpunkt ausgeht, ist nicht möglich. Bei einer Auflistung ist die Anzahl der einzelnen Punkte außerdem davon abhängig, ob eher zusammenfassend dargestellt wird oder stark auseinandergefächert. Insofern besteht für einen Versuch kein Anspruch auf erschöpfende Vollständigkeit und Endgültigkeit.

Leistungen

  • durchgehender Versuch rationaler Begründung: René Descartes gibt für seine erkenntnistheoretischen Auffassungen rationale Begründungen an.
  • Anforderung einer Überprüfung mit Anwendung eines methodischen Zweifels: Descartes vermittelt ein Bemühen, nicht Vorurteilen zum Opfer zu fallen oder Autoritäten ungeprüft zu folgen.
  • Aufmerksamkeit für das Denken selbst: Descartes widmet in seiner Erkenntnistheorie dem Denken selbst und seinen Leistungen Aufmerksamkeit.
  • Nachweis der Unmöglichkeit, einen Zweifel an der eigenen Existenz sinnvoll aufrechtzuerhalten: Wie Descartes zeigt, ist Zweifel eine Art des Denkens, und sofern und solange ich zweifle, existiere ich.
  • Versuch, einen Weg von der Sinneserfahrung zur Verstandeserkenntnis/Vernunfterkenntnis zu zeigen: Descartes versucht, methodisch kontrolliert von dem, was die Sinneswahrnehmung an Erfahrungen liefert, zu einer von der Ratio (Verstand/Vernunft) anzuerkennenden Erkenntnis zu kommen. Damit wird es ein Ziel, die Natur wissenschaftlich zu erklären.
  • Ableitung des Unterschiedes zwischen Wahrnehmung und rationalem Denken aus dem Unterschied zwischen konfusen (verschwommenen und verworrenen) und distinkten (deutlich unterschiedenen) Erkenntnissen: Bei der Wahrnehmung kommt es zu konfusen Erkenntnissen, das rationale Denken bemüht sich, zu distinkten Erkenntnissen weiterzukommen.
  • Ermittlung des einfachen Seins einer Sache durch ein geeignetes Kriterium: Descartes verwendet ein geignetes Kriterium, das einfache Sein einer Sache zu ermitteln. Es wird eine Prüfung vorgenommen, ob etwas in etwas anderem schon vorausgesetzt wird und ob es sich auch für sich selbst ohne etwas anderes gedacht werden kann.

Grenzen

  • zur Stützung einer Gewißheit der Erkennntis Verwendung von versuchten Gottesbeweisen ohne zwingende Beweiskraft: Descartes hat den Zweifel angegeben, ein übelwollender Geist könne die Menschen sogar bei dem täuschen, das evident zu sein scheint, das heißt klar und deutlich (unterschieden) ist. Um trotzdem zu einer Gewißheit der Erkennntis zu kommen, stützt Descartes die Evidenz durch die Annahme eines wohlwollenden Gottes, der unmöglich täuschen kann. Den versuchten Gottesbeweisen fehlt aber zwingende Beweiskraft. Unter anderem ist die Annahme anfechtbar, eine Wirkung könne niemals größer sein als ihre Ursache, kann eine bestimmte Gottesidee nicht als zweifellos einzig echte Gottesidee vorausgesetzt werden und Existenz nicht als zur wahrhaften Natur Gottes als eines vollkommenen Wesens gehörend wie eine Selbstverständlichkeit zugrundegelegt werden. Außerdem steckt in dem Stützungsversuch ein Zirkelschluß. Beim Beweisversuch für die Existenz Gottes wird argumentiert, etwas sei klar und deutlich (unterschieden), aber die Gewißheit dieses Wahrheitskriteriums hängt von dem zu Beweisenden ab (Existenz Gottes, der Wahrheit gewährleistet).
  • Erhebung der Evidenz im Bewußtsein zum alleinigen Kriterium der Sicherheit der Erkenntnis, ohne Kriterien der Erkennbarkeit mitzureflektieren: Descartes leitet aus Evidenz die Richtigkeit Erkenntnis ab, ohne einbeziehen, durch welche Kriterien der Erkennbarkeit sie zustandekommt. Beim cogito ergo sum ist dies der Satz vom (zu vermeidenden) Widerspruch. Dieser ist eine feste, unhintergehbare Grundlage. Klarheit und Deutlichkeit einer Vorstellung im Bewußtsein kann dagegen auch bei falschen Annahmen auftreten.
  • Verwechslung der Wirkung richtigen Denkens (das richtig Gedachte hat für Menschen besonders große Überzeugungskraft und Evidenz) mit dem richtigen Denken selbst: Descartes konzentriert sich auf die Deutlichkeit, in der etwas dem Denken gegenwärtig ist. Er sucht Sicherheit des Erkennens in sicher beweisbaren und bewiesenen Gegenständen, vernachlässigt dabei aber die begrifflichen Voraussetzungen, die Sicherheit des Erkennens ermöglichen. Dadurch wird Deutlichkeit zum eigentlichen, ja einzigen Wahrheitskriterium, obwohl Deutlichkeit eine Folge der richtigen Unterscheidung ist, keine primäre Erkenntnisleistung.
  • Unbefragtheit einer Einheit und Ganzheit des Gegenstandes, wie er in Wahrnehmung erscheint, als Ausgangspunkt des Erkennens: Descartes nimmt einerseits eine Anfälligkeit der Sinne für Täuschung an, setzt anderseits aber voraus, daß die Sinneswahrnehmung etwas richtig schon als eine Sacheinheit liefert, von der aus der Verstand/die Vernunft zu einer klaren und deutlichen einheitlichen Erfassung gehe. Descartes untersucht nicht, ob ein Gegenstand der Erfahrung tatsächlich ein einfacher Gegenstand ist und es sich (in dem, was dazu gehört und was nicht) um eine echte Sacheinheit mit einer Einheit und Ganzheit des Gegenstandes handelt.
  • Anforderung, ein Gegenstand müssse in der ganzen unendlichen Fülle aller seiner Erscheinungen anschaulich vorgestellt werden: Descartes meint, die einheitliche Erfassung der unendlichen Summe aller möglichen Vorstellungsmerkmale eines Gegenstandes liefere wirklich einen Begriff von ihm. Dabei geschieht aber entweder kein Erfassen auf eine rational kontrollierbare Weise oder das Ganze geht in der konkreten Vielheit seiner Erscheinungsformen der Erfassung verloren.
  • schematische Entgegensetzung eines abstrakten Verstandes und einer konkreten Anschauung, wodurch die Leistung sachbezogenen Unterscheidens fehlt: Das Denken des Verstandes wird als eine völlig abstrakte, alles Konkreten entleerte Vorstellung verstanden. Denken wird als Vergegenwärtigung der dunklen und konfusen Inhalte der Anschauung in bewußten Vorstellungsbildern gedeutet. Damit fehlt ein sachbezogenes Unterscheiden als Leistung des Verstandes/der Vernunft.
  • zu einer Gleichsetzung von Substanz (Wesen) mit Materie führende Auffassung, das Zugrundeliegende (der Träger des Gegenstandes) sei Substanz/wesentliche Bestimmung/Wesen, nicht aber eine Eigenschaft des Zugrundeliegenden (des Trägers des Gegenstandes) sei Substanz/wesentliche Bestimmung: Descartes nimmt das Zugrundeliegende (den Träger des Gegenstandes) als Substanz/wesentliche Bestimmung/Wesen an. Damit wird jedoch das, was Descartes als erkannte Substanz (das, was bei aller Veränderung eines Dinges gleichbleibend ist) ausgibt, etwas Unbestimmtes. Dieses Unbestimmte ist Materie, nicht die Natur/das Wesen einer Sache. So wird als Substanz des Wachses bloß dargestelt, eine ausgedehnte Sache zu sein. Darin unterscheidet sich Wachs aber nicht von allen anderen materiellen Dingen. Das, was Wachs spezifisch ausmacht, ist damit nicht erfaßt.
  • Herabsetzung von Aufmerksamkeit und Unterscheiden des Denkens zu bloß passiv-rezeptiven (aufnehmenden) Vorgängen: Descartes nimmt als aktive und spontane Gedanken nur das an, was bewußtsein und Selbstbewußtsein vollziehen. Aufmerksame und unterscheidende Erkenntnisformen werden zu bloß passiv-rezeptiven (aufnehmenden) Arten der Empfänglichkeit herabgesetzt.

Sehr unzureichend, aber für mein laienhaftes Verstehen wichtig, hat sich in meinem Kopf folgende Einschätzung festgesetzt:

Indem Descartes das Denken von der Bevormundung durch die Religion befreite, als er es zum konstituierenden Merkmal menschlicher (Selbst)-Erkenntnis erklärte (ego sum, ego existo, Ich denke also bin ich), wurde er ein bedeutender Wegbereiter für das Wissenschaftsverständnis der Neuzeit bis in unserere Gegenwart.

Doch die Reduzierung der Wirklichkeit auf das dem Denken Zugängliche hat eine Verengung auf das Faktische hervorgebracht. Damit entstand und entsteht zunehmend die Gefahr, dass ein das Denken überschreitende Erleben - das etwa künstlerischen oder spirituellen Ausdruck findet - gesellschaftlich an Bedeutung einbüßt.