Keine Strafe ohne Schuld?

9 Antworten

Die Schuld fehlt beispielsweise, wenn:

jemand schuldunfähig ist (z.B. Kinder, Personen die aufgrund einer psychischen Erkrankung das Unrecht ihrer Tat nicht einsehen können)

beim Notwehrexzess (§ 33 StGB)

beim rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB)

wenn jemand die Strafbarkeit einer Handlung nicht kannte und dies nicht vermeiden konnte

wenn jemand zu einer Handlung gezwungen wurde (vis absoluta oder vis compulsiva)

wenn jemand irrig und ohne Verschulden annimmt, seine strafbare Handlung sei gerechtfertigt

Das deutsche Recht geht davon aus, dass Menschen die zurechnungsfähig sind einen freien Willen haben, sonst würden sämtliche Freiheitsrechte keinen Sinn ergeben.


horrorfan97 
Beitragsersteller
 10.12.2019, 18:09

Ok, aber ist willensfreiheit rechtlich gesehen widerlegbar? Also sofern keine der ausnahmen wie 20 stgb greift? Oder wird willensfteiheit unwiderlegbar postuliert?

Es könnte ja rein theoretisch sein, dass die wissenschaft willensfreiheit eines tages komplett widerlegt. Je nach dem was wiederum mit willensfreiheit genau gemeint ist.

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Grinzz  10.12.2019, 21:30

1. Kinder sind nicht schuldunfähig, sie sind nicht strafmündig.

2. Der Notstand nach § 34 StGB ist ein Rechtfertigungsgrund und greift nicht auf der Schuldebene.

3. Nicht jedes erzwungene Handeln führt zu einer Schuldunfähigkeit. Dafür müssten bspw. die Voraussetzungen des § 35 StGB vorliegen.

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  • Formaljuristische Antworten hast du ja schon zur Genüge bekommen und ich bin auch kein Jurist. Aber ich kann dir aus philosophischer Richtung antworten und da Willensfreiheit gar kein relevanter juristischer Begriff ist, dürfte dies deiner eigentlichen Fragestellung recht nahe kommen. Es wird in unserem Rechtssystem keine Willensfreiheit ausdrücklich postuliert, sondern es werden andere Rechtsbegriffe (Einsichts- und Steuerungsfähigkeit) eingeführt und beachtet.
  • Du gehst willkürlich davon aus und baust darauf deine Argumentation auf, dass man Menschen nur bestrafen kann, wenn sie frei in ihrem Willen wären. Diese Hypothese ist aber philosophisch und auch pragmatisch unhaltbar. Stellen wir uns vor, es wäre ein Roboter mit Hardware und Software, so würde man ein Gerät stilllegen, dass sich warum auch immer nicht an die vorgegebenen Regeln hält. Warum es das tut, wäre dafür erst einmal nicht bedeutsam, ob es Willensfreiheit hätte schon mal gar nicht. Es arbeitet nicht korrekt, also wird es stillgelegt / bestraft / belehrt /geschult -- es werden auf jeden Fall Konsequenzen gezogen.
  • Beim Menschen kann es durchaus sein, dass echte Willensfreiheit gar nicht existiert. Dennoch nehmen Menschen ihre Umwelt wahr, reagieren auf sie und interagieren mit ihr. Wenn sie sich dabei in einer Art verhalten, die der Gemeinschaft schadet und gegen die Regeln ist, dann müssen entsprechende Konsequenzen gezogen werden. Dies geschieht wegen des Verstoßes, zu dem dieses "System Mensch" offensichtlich entsprechend "verdrahtet" ist. Willensfreiheit ist dafür nicht nötig, weder theoretisch noch praktisch. Man müssten allenfalls das Begriffliche anpassen, aber nicht die Praxis.

Shadow628  29.05.2022, 13:48

Du hast wirklich recht. Auch wenn es die Willensfreiheit nicht geben würde, der Fakt, dass die jeweilige Person mit vollem Bewusstsein gegen das Gesetz verstoßen hat, bleibt. Wunderbar erklärt!

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Würde man die willensfreiheit verneinen, gäbe es keine Schuld und keine Strafe und somit keine Sanktionen für entsprechendes Verhalten.
dies würde aus ganz offensichtlichen Gründen jede regelungswirkung der Gesetze unterlaufen.
somit würde dies zu einer Vermehrung der Straftaten führen so dass rein logisch die willensfreiheit gegeben sein muss, erkennbar aus der Tatsache, dass straflosigkeit zu mehr Verbrechen führt.

entsprechend geht die Rechtsprechung beim gesunden Menschen von willensfreiheit aus.


horrorfan97 
Beitragsersteller
 10.12.2019, 17:21

Ok, aber sie postuliert sie nicht?

Denn falls sie sie nicht postuliert, könnte man ja willensfreiheit rein theoretisch widerlegen und niemand dürfte mehr bestraft werden.

Deshalb wäre es au sicht der rechtssprechung schlau, willensfreiheit einfach unwiderleglich zu postulieren. Das das an der realität vorbeigehen würde, da nichts per se unwiderleglich ist, ist klar.

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Grinzz  10.12.2019, 17:32
@horrorfan97

Die Schuld im strafrechtlichen Sinne besteht aus den Elementen der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit. Dabei wird davon ausgegangen, dass ein Mensch grundsätzlich in der Lage ist ein Unrecht als solches zu erkennen (Einsicht) und entsprechend seiner Einsicht handeln zu können (Steuerung).

Es können vorübergehende oder permanente, erworbene oder angeborene Mängel in einer oder beiden Fähigkeiten vorliegen, welche dann die Schuld einschränken (§ 21 StGB) oder ausschließen (§ 20 StGB).

Im Ergebnis sucht das Gericht also bei jedem Menschen nach dem Vorliegen von Gründen, welche die Schuld ausschließen - wenn nichts vorliegt, wird davon ausgegangen, dass der Angeklagte schuldfähig ist, also sein Unrecht erkannt hat und entsprechend dieser Einsicht hätte handeln können.

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horrorfan97 
Beitragsersteller
 10.12.2019, 18:03
@AnglerAut

Sie setzt sie ja auf jeden Fall diesbezüglich widerleglich voraus, dass es ja auch noch die Schuldausschlussparagraphen gibt. Ich verstehe deine antwort aber so, dass die rechtssprechung auch für den fall die schuld nur widerleglich voraussetzt, dass kein Ausnahmeparagraph vorliegt. Da es ja sein könnte, dass menschen generell nicht willensfrei sind.

Das führt doch aber zu problemen? Es gilt doch sicher auch für die tatsächlichen voraussetzungen der schuld der grundsatz "in dubio pro reo"? Im hinblick darauf, dass sehr viele forscher an der willensfreiheit zumindest starke zweifel haben, wäre es doch zwangsweise notwendig, dass sich gerichte mit der willensfreiheit auseinandersetzen? Schließlich wäre es ein erörterungsmangel und müsste durch das revisionsgericht beanstandet werden, dass ein gericht trotz starker wissenschaftlicher zweifel ohne das näher auszuführen einfach so von der willensfreiheit überzeugt ist? Verstehst du, wie ich meine?

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horrorfan97 
Beitragsersteller
 10.12.2019, 18:53
@Grinzz

Ok, aber Schuld hat doch noch mehr Komponenten als Einsichts-und Steuerungsfähigkeit oder? Z.b. 35 StGB(Entschuldigender Notstand). Geht es da wirklich um diese beiden Sachen oder nicht eher darum, dass man es jemandem sozusagen "verzeit", dass er in solchen Situationen mehr auf sich schaut wie auf andere? Also ich rede jetzt von 35 StGB.

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Grinzz  10.12.2019, 21:21
@horrorfan97
aber Schuld hat doch noch mehr Komponenten als Einsichts-und Steuerungsfähigkeit oder?

Nein. Die Schuld erschöpft sich tatsächlich darin.

Also ich rede jetzt von 35 StGB.

Der Notstand (§ 34 StGB) ist ein Rechtfertigungsgrund. Der entschuldigende Notstand (§ 35 StGB) ist ein Entschuldigungsgrund. Um sich zu entschuldigen, muss zunächst die Schuld festgestellt werden. Wer nie schuldig war, braucht keine Entschuldigung.

Zwar handelt da jemand im Ergebnis ohne Schuld; dies aber nicht weil er nicht schuldig ist, sondern weil er zunächst schuldig gewesen ist und danach entschuldigt wurde. Das Gesetz sieht eben vor, dass jemand - obwohl er schuldhaft und rechtswidrig gehandelt hat - dennoch straffrei bleiben soll, weil sein Verhalten eben doch nur menschlich war. Damit hat der Gesetzgeber aber der Schuld keinen weiteren Aspekt hinzufügen, sondern nur eine letzte Hintertür einrichten wollen.

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horrorfan97 
Beitragsersteller
 10.12.2019, 23:05
@Grinzz

Ich glaub, da kann man durchaus anderer Ansicht sein wie du. In 35 StGB steht ja "handelt ohne Schuld". Dass die Person ohne diesen Entschuldigungsgrund mit Schuld handeln würde, ist doch logisch. Ich denke schon, dass das ein weiterer Aspekt der Schuld ist. Sehe zu meiner Sicht kein zwingendes Gegenargument.

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horrorfan97 
Beitragsersteller
 10.12.2019, 23:07
@horrorfan97

Außerdem muss für 35 StGB die Schuld doch nicht vorher noch festgestellt werden? Da würde sich der Richter doch unnötig Arbeit machen.

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Deine Definitionsfrage beantwortet Dir Wikipedia, zu finden für mich in 4 Sekunden:

https://de.wikipedia.org/wiki/Strafe#Rechtswissenschaft

Die Diskussion wird durchaus auch am Rande der Juristenzunft geführt. Professor Pfeifer z.B. weist hin und wieder auf die Gedanken hin, die du bei Wissenschaften gefunden hast.

Das Gros der Juristen will sich damit aber nicht auseinandersetzen. Ein aktuelles Beispiel findest du bei dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom November über Sanktionen, in dem die Richter behaupten, dass die Menschen nur mit Strafe zum Arbeiten gebracht werden könnten und dies zweifelsfrei feststehe.

Für die Wissenschaften, die sich mit der Psyche des Menschen befassen, steht das eben alles andere als fest. Doch das interessiert die Richter nicht. Braucht es auch nicht, denn sie haben die Macht. Und Macht braucht keine Argumente zum Überzeugen. Sie ist selbst das letzte und entscheidende Argument.


horrorfan97 
Beitragsersteller
 10.12.2019, 19:39

Klar, die wikipediadefinition ist schnell zu finden, aber darum gehts mir ja nicht.

Mit deinen aussagen hast du recht, muss ich leider sagen.

Kann ich daraus folgern, dass sich die rechtssprechung noch gar keine gedanken gemacht hat, welche der drei ansichten sie folgt? Also die drei, die ich in meiner frage anspreche.

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