Hey, ich verstehe das Zitat "Es ist besser ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein." nicht ganz. Könnte es mir vielleicht jemand erklären?

9 Antworten

Für mich ein anmaßendes Urteil:

Ich kann als Mensch über die Befindlichkeit von Menschen mir ein vorsichtiges Urteil erlauben. Mag auch Vermutungen darüber anstellen, ob ein Tier sich unwohl oder wohl fühlt.

Da mir aber die unmittelbare Erlebnisweise eines Tieres verschlossen bleibt, sollte ich mit  vergleichenden  Werturteilen  zwischen Mensch und Tier sehr vorsichtig sein.

Ein zufriedenes Wildschwein bestreitet sein Leben ganz ohne die existenzbedrohenden Wirkungen der instrumentellen Vernunft.

Der unzufriedene Mensch beansprucht die Massentötung von
Hausschweinen und die blindwütige Zerstörung unserer Mitwelt.

Wäre ich in der Lage, mich in ein zufriedenes Schwein einzufühlen – was ich nicht kann-, ich könnte vermutlich achtsamer, bescheidener, zufriedener leben.

Ist gar ein zufriedenes Schwein ein wenig besser als ein unzufriedener Mensch?

"Es ist besser ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein."

Naja, wir sind umgeben von zufriedenen Schweinen, nämlich Egoisten...da ist es in der Tat besser ein unzufriedener Mensch zu sein, finde ich :)

Das Zitat kann im Zusammenhang mit der Darlegung einer bestimmten ethischen Theorie, des Utilitarismus, durch John Stuart Mill (1806 – 1873) verstanden werden.

John Stuart Mill, Utilitarianism (1861), Chapter 2: What utilitarianism is. (2. Kapitel: Was heißt Utilitarismus?):

„Whoever supposes that this preference takes place at a sacrifice of happiness- that the superior being, in anything like equal circumstances, is not happier than the inferior- confounds the two very different ideas, of happiness, and content. It is indisputable that the being whose capacities of enjoyment are low, has the greatest chance of having them fully satisfied; and a highly endowed being will always feel that any happiness which he can look for, as the world is constituted, is imperfect. But he can learn to bear its imperfections, if they are at all bearable; and they will not make him envy the being who is indeed unconscious of the imperfections, but only because he feels not at all the good which those imperfections qualify. It is better to be a human being dissatisfied than a pig satisfied; better to be Socrates dissatisfied than a fool satisfied. And if the fool, or the pig, are of a different opinion, it is because they only know their own side of the question. The other party to the comparison knows both sides.“

John Stuart Mill, Der Utilitarismus. Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Dieter Birnbacher. Durchgesehene Ausgabe. Stuttgart : Reclam, 1985 (Universal-Bibliothek ; Nr. 9821), S. 17 – 18:  

„Wer meint, daß diese Bevorzugung des Höheren ein Opfer an Glück bedeutet – daß das höhere Wesen unter den gleichen Umständen nicht glücklicher sein können als das niedrigere - , vermengt die zwei durchaus verschiedenen Begriffe des Glücks [happiness] und der Zufriedenheit [content]. Es ist unbestreitbar, daß ein Wesen mit geringerer Fähigkeit zum Genuß die besten Aussichten hat, voll zufriedengestellt zu werden; während ein Wesen von höheren Fähigkeiten stets das Gefühl haben kann, daß alles Glück, das es von der Welt, wie sie beschaffen ist, erwarten kann, unvollkommen ist. Aber wenn diese Unvollkommenheiten überhaupt nur erträglich sind, kann es lernen, mit ihnen zu leben, statt die anderen zu beneiden, denen diese Unvollkommenheiten nur deshalb nicht bewußt sind, weil sie sich von den Vollkommenheiten keine Vorstellung machen können, mit denen diese verglichen werden. Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein; besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr. Und wenn der Narr oder das Schwein anderer Ansicht sind, dann deshalb, weil sie nur die eine Seite der Angelegenheit kennen. Die andere Partei hingegen kennt beide Seiten.“

Der Gedanke bei Mill ist: Ein Schwein hat nicht so hohe Begabungen und große Fähigkeiten wie ein Mensch, ist daher auch nicht so anspruchsvoll und leichter zufriedenzustellen als ein Mensch. Ein Mensch ist zu mehr Glück als ein Schwein fähig, er hat die Möglichkeit zu Freuden höherer Qualität, daher ist sein Leben vorzuziehen, auch wenn nicht volle Zufriedenheit erreicht wird (es ist bessser, ein unzufriedener Mensch zu sein). Ein Mensch ist zu einem Leben in der Lage, das in qualitativer Hinsicht reicher an Lust/Freude ist als das Leben eines Schweines.

Nach Auffassung von Mill können Menschen nicht nur Freuden der bloßen Sinnlicheit erleben, sondern auch Freuden des Verstandes, der Empfindung, der Vorstellungskraft und des sittlichen Gefühls.

Eine Handlung ist nach Mill moralisch richtig, wenn sie das Glück fördert/vermehrt (die Tendenz dazu hat, also in diese Richtung geht) und falsch, wenn sie in der Summe ihrer Folgen Unglück hervorruft. Unter Glück (happiness) versteht Mill Lust/Freude (pleasure) und das Fehlen von Schmerz/Unlust/Leid (pain), unter Unglück das Gegenteil. Angenehme Empfindungen sind der Ursprung von Werten. Maßstab ist das Urteil derer, die mit den Freuden bzw. Schmerzen Erfahrung haben.

Mill unternimmt eine zusätzliche Einführung qualitativer Unterschiede in den Utilitarismus: Nicht nur quantitative Unterschiede (Menge/Ausmaß des Glücks/der Lust/derFreude) können in der Beurteilung eine Rolle spielen, sondern auch qualitative Unterschiede (die Beschaffenheit), wobei bestimmte Arten von Glück/Lust/Freude als wünschenswerter und wertvoller beurteilt werden.

John Stuart Mill, Utilitarianism (1861), Chapter 2: What utilitarianism is. (2. Kapitel: Was heißt Utilitarismus?):  

„If I am asked what I mean by difference of quality in pleasures, or what makes one pleasure more valuable than another, merely as a pleasure, except its being greater in amount, there is but one possible answer. Of two pleasures, if there be one to which all or almost all who have experience of both give a decided preference, irrespective of any feeling of moral obligation to prefer it, that is the more desirable pleasure. If one of the two is, by those who are competently acquainted with both, placed so far above the other that they prefer it, even though knowing it to be attended with a greater amount of discontent, and would not resign it for any quantity of the other pleasure which their nature is capable of, we are justified in ascribing to the preferred enjoyment a superiority in quality so far outweighing quantity as to render it, in comparison, of small account.“

John Stuart Mill, Der Utilitarismus. Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Dieter Birnbacher. Durchgesehene Ausgabe. Stuttgart : Reclam, 1985 (Universal-Bibliothek ; Nr. 9821), S. 15 – 16:  

„Fragt man mich nun, was ich meine, wenn ich von der unterschiedlichen Qualität von Freuden spreche, und was eine Freude – bloß als Freude, unabhängig von ihrem größeren Betrag – wertvoller als eine andere macht, so gibt es nur eine mögliche Antwort. Von zwei Freuden ist diejenige wünschenswerter, die von allen oder nahezu allen, die beide erfahren haben - ungeachtet des Gefühls, eine von beiden aus moralischen Gründen vorziehen zu müssen - entschieden bevorzugt wird. Wird die eine von zwei Freuden von denen, die beide kennen und beurteilen können, so weit über die andere gestellt, daß sie sie auch dann noch so viele andere Freuden, die sie erfahren könnten, nicht eintauschen möchten, sind wir berechtigt, jener Freude eine höhere Qualität zuzuschreiben, die die Quantität so weit übertrifft, daß diese im Vergleich nur gering ins Gewicht fällt.“

Bei der Bevorzugung einer Freude mit höherwertiger Qualität ist unter dem Gesichtspunkt von (eigener) Zufriedenheit oder Unzufriedenheit die Unterscheidung der Begriffe »Glück« und »Zufriedenheit« zu berücksichtigen, die Mill vornimmt.

Höher begabte und mit größeren Fähigkeiten ausgestattete Wesen sind anspruchsvoller und verlangen mehr, um sich völlig glücklich zu fühlen. Sie sind zu mehr Glück fähig und können trotzdem insofern unzufrieden sein, als sie nach mehr streben und immer das Gefühl haben, von der Welt nur ein unvollkommenes Glück erwarten zu können. Zufriedenheit und Glück sind verschiedene Begriffe. Ein Wesen mit großen Fähigkeiten zum Genießen ist weniger leicht voll zufriedengestellt. Trotzdem ist dieses Streben nach Ausschöpfung in der Entfaltung der Fähigkeiten für sie nach Mills Urteil die bessere Daseinsweise.

John Stuart Mill, Utilitarianism (1861), Chapter 2: What utilitarianism is. (2. Kapitel: Was heißt Utilitarismus?):  

„A being of higher faculties requires more to make him happy, is capable probably of more acute suffering, and certainly accessible to it at more points, than one of an inferior type; but in spite of these liabilities, he can never really wish to sink into what he feels to be a lower grade of existence. We may give what explanation we please of this unwillingness; we may attribute it to pride, a name which is given indiscriminately to some of the most and to some of the least estimable feelings of which mankind are capable: we may refer it to the love of liberty and personal independence, an appeal to which was with the Stoics one of the most effective means for the inculcation of it; to the love of power, or to the love of excitement, both of which do really enter into and contribute to it: but its most appropriate appellation is a sense of dignity, which all human beings possess in one form or other, and in some, though by no means in exact, proportion to their higher faculties, and which is so essential a part of the happiness of those in whom it is strong, that nothing which conflicts with it could be, otherwise than momentarily, an object of desire to them.“

John Stuart Mill, Der Utilitarismus. Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Dieter Birnbacher. Durchgesehene Ausgabe. Stuttgart : Reclam, 1985 (Universal-Bibliothek ; Nr. 9821), S. 17:  

„Ein höher begabtes Wesen verlangt mehr zu seinem Glück, ist wohl auch zu größeren Leiden fähig und ihm sicherlich in höherem Maße ausgesetzt als ein niedrigeres Wesen; aber trotz dieser Gefährdungen wird es niemals in jene Daseinsform absinken wollen, die es als niedriger empfindet. Wir mögen dieses Widerstreben erklären, wie wir wollen: wir mögen es dem Stolz zuschreiben – einem Begriff, mit dem man einige der am meisten und einige der am wenigsten schätzenswerten Gefühle, deren die Menschen fähig sind, bezeichnet; wir mögen es der Freiheitsliebe un dem Streben nach Unabhängigkeit zuschreiben, woran die Stoiker appelliert und worin sie eines der wirksamsten Mittel gefunden haben, die Menschen zu diesem Widerstreben zu erziehen; der Liebe zur Macht und zur begeisterten Erregtheit, die beide darin enthalten sind. aber am zutreffendsten wird es als ein Gefühl der Würde beschrieben, das allen Menschen in der einen oder anderen Weise zu eigen ist und das für die, bei denen es besonders stark ausgeprägt ist, einen so entscheidenden Teil ihres Glücks ausmacht, daß sie nichts, was mit ihm unvereinbar ist, länger als nur einen Augenblick lang zu begehren imstande sind.“


KOKOSNUSS155  22.02.2021, 21:15

Ehrenmann hat mir sehr geholfen :)

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PriOltari  21.09.2021, 20:19

Ach du heilige, vielen dank

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Ein Schwein ist zwar unzufrieden, jedoch nur weil es unmündig ist und sich selbst seiner Situation nicht bewusst ist. Ein Mensch ist meistens mündig und weiß wo er sich befindet, darauf folgt zwar oft die Unzufriedenheit. Diese ist jedoch laut dem Verfasser des Zitates besser, als ein zufriedenes unmündiges Schwein zu sein.

Ersetze das Wort Schwein mal durch das Wort Egoisten-Schwein, dann wirst du den Sinn des Zitates ganz schnell begreifen.